Wer beim Zentrum Gesundheit & Soziales anruft, wird so freundlich empfangen wie ein Privatpatient beim Arzt. Die Dame an der Hotline nimmt sich viel Zeit, beantwortet alle Fragen. Es ist Anja Ortelt, eine ausgebildete Krankenschwester und Mitarbeiterin des Zentrums. Als “alternative Gewerkschaft” könnten sie Pflegekräfte bei Streitfragen beraten und bei Konflikten auch mit Anwälten helfen, sagt Ortelt. Ihr Telefon klingele rund um die Uhr.

Das Zentrum Gesundheit & Soziales ist eine Untergruppierung des Vereins Zentrum, der eine Konkurrenz zu IG Metall und Ver.di sein will. Rechtlich ist dieser keine Gewerkschaft, dafür fehlt ihm unter anderem die Fähigkeit, Tarife auszuhandeln. Seinen Ursprung hat er in der Automobilbranche, weshalb er lange nur Zentrum Automobil hieß. Dort ist er vor allem in Baden-Württemberg aktiv, begonnen hat er im Mercedes-Werk in Untertürkheim. Zu seinen besten Zeiten stellte das Zentrum Automobil deutschlandweit etwa 20 Betriebsräte bei Unternehmen wie Mercedes, BMW und Porsche.

Heute steht das Zentrum weniger stark da. Rund fünf Betriebsräte hat der Verein verloren, fast alle sind nur noch bei Mercedes tätig. Und auch dort sei das Zentrum seit der letzten Betriebsratswahl 2022 kaum noch wahrzunehmen, teilt die Untertürkheimer Betriebsratssprecherin Lisa Seeger mit. Seit der Corona-Pandemie geht der Verein auf Mitgliederfang in neuen Branchen. Mit dem Zentrum Gesundheit & Soziales warb er unter Impfkritikern und Maskengegnern in Krankenhäusern. Und in Zukunft sollen noch weitere Branchen folgen.

In der rechten Szene vernetzt

Bisher ist das Zentrum vor allem für eins bekannt: Es ist eng mit der rechtsextremen Szene verbunden. Der Vereinsvorsitzende Oliver Hilburger war bis in seine späten Dreißiger Gitarrist der Rechtsrockband Noie Werte, was er selbst als Jugendsünde abtut. Auch in den vergangenen Jahren umgab er sich regelmäßig mit bekannten Rechtsextremisten. Mit dem neurechten Netzwerk Ein Prozent und dem rechtsextremen Magazin Compact startete das Zentrum unter seiner Führung 2017 eine Kampagne mit dem Titel Werde Betriebsrat.

Auf der Compact-Konferenz 2017 applaudierte Hilburger bei einem Vortrag von Martin Sellner, dem früheren Chef der Identitären Bewegung in Österreich, deutlich sichtbar, als dieser seine Pläne zur sogenannten Remigration vorstellte. Ein langjähriger Schatzmeister des Zentrums hatte früher denselben Posten bei der mittlerweile verbotenen Wiking-Jugend, einer rechtsextremen Nachfolgeorganisation der Hitlerjugend. Werbefilme ließ das Zentrum auch von Simon Kaupert produzieren, der Kopf eines Würzburger Pegida-Ablegers war und der nun das neurechte Filmkunstkollektiv leitet.

Politikwissenschaftler David Aderholz hat Dutzende Veröffentlichungen des Zentrums analysiert. Wenn man sich diese mit dem Hintergrundwissen über auf Demonstrationen und Konferenzen vertretenen Positionen anschaue, seien sie eindeutig Teil eines rechten Narrativs, sagt er. “Das Zentrum behauptet, es gibt eine Elite, die gegen die Arbeiter ist, und die DGB-Gewerkschaften wären ein Teil davon.”

Zusammenarbeit mit der AfD

Bis Juni 2022 stand das Zentrum wegen seiner Verbindungen noch auf der Unvereinbarkeitsliste der AfD. Neben anderen setzte sich der Chef der Thüringer AfD, Björn Höcke, dafür ein, den Verein von der Liste zu streichen – mit Erfolg. Seitdem entstehen merkbare Vernetzungen: Der Dortmunder AfD-Bundestagsabgeordnete Matthias Helferich, der sich laut geleakten Chats selbst als “das freundliche Gesicht des NS” sieht, verkündete vor Kurzem auf X seine Fördermitgliedschaft beim Zentrum. Er rief über die Plattform dazu auf, sich der “patriotischen Arbeitnehmervertretung” anzuschließen, die Junge Alternative teilte diesen Post. Krankenschwester Anja Ortelt wurde von der AfD-Bundestagsfraktion für eine Expertenanhörung eingeladen. Und eine Zentrums-Gruppe besuchte die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestufte Thüringer AfD beim Sommerfest im Landtag.

ZEIT ONLINE hat mit Vereinschef Oliver Hilburger über das Verhältnis zwischen Zentrum und AfD gesprochen. Die behördliche Einschätzung als rechtsextrem stört ihn demnach nicht, sagt er: “Der Verfassungsschutz ist ein Instrument, das der politische Gegner zur Kriminalisierung und zur Stigmatisierung nutzt.” Björn Höcke halte er für einen “authentischen, ehrlichen und unbestechlichen Politiker”. Aussagen von Höcke, die Taten Hitlers und den Holocaust relativieren, seien vermutlich nicht so gemeint gewesen. Ansonsten seien sie “Unfug”. Und auch mit der NPD oder dem Dritten Weg wolle das Zentrum nichts zu tun haben. Dass manchmal Leute von ihnen auf Demos dabei ständen, könne Hilburger jedoch nicht verhindern.

Der Soziologe Klaus Dörre forscht seit vielen Jahren zu dem Zentrum und anderen rechten Organisationen in Betrieben. Diese seien exzellent darin, zentrale Begriffe linker Gesellschaftskritik umzudefinieren, sagt er. So würde aus dem Klassenkampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein Kampf zwischen verschiedenen Arbeiternehmergruppen. “Die Konsequenz ist eine Spaltung der Arbeitnehmer und eine Diskreditierung ihrer Gewerkschaften und Interessenvertretungen.”

Neue Versuche in der Chemiebranche

IG-Metall-Gewerkschaftlerin Kathrin Große-Schulte saß zusammen mit drei Zentrums-Mitgliedern im Betriebsrat von Daimler in Rastatt. Sie sagt: “Die Bedrohungslage des Zentrums wurde in den Anfängen noch mehr unterschätzt als heute.” Das gelte auch heute noch.

Auch wenn bei Zentrums-Vertreterin Anja Ortelt angeblich ständig das Telefon klingelt: In der Gesundheitsbranche ist die scheinbare Gewerkschaft nach der Pandemie kaum bekannt. Das hat der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder beobachtet. Wie groß der Verein tatsächlich ist, bleibt allerdings unklar, denn Mitgliederzahlen veröffentlicht das Zentrum nicht. Laut Hilburger, “damit die Beobachter des DGB uns schwerer einschätzen und Gegenstrategien entwickeln könnten”.

Eine Strategie verrät Hilburger gegenüber ZEIT ONLINE: Mit “an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit” werde das Zentrum bald in der chemischen Industrie aktiv. Damit könnte sich der Verein auch geografisch ausweiten. Mitte Februar postete das Zentrum in seinem Telegram-Channel Bilder eines Treffens im Ruhrgebiet, bei dem die Betriebsratswahlen 2026 in der Chemiebranche vorbereitet werden sollten.

Im vergangenen Jahr kündigte ein Flyer noch fünf weitere Untergruppierungen an, die in Zukunft entstehen könnten, von Zentrum Hotel & Gastronomie bis Zentrum Bildung & Erziehung. “Man kann von der Branchenstruktur überhaupt nicht sagen, wo die sich etablieren könnten”, sagt Schroeder. “Wenn man vor vielen Jahren gefragt hätte, hätte man wohl eher nicht die verarbeitende Industrie favorisiert.” Schroeder und Dörre sind sich einig: Am Ende komme es nur darauf an, wo das Zentrum aktionsbereite Mitglieder habe.

Dieser Text ist in einer Kooperation des Störungsmelders mit dem Studiengang Journalistik (B.A.) an der TU Dortmund entstanden.



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