Braunschweig. Nein, dieser Mann lässt sich nichts sagen. Das macht er klar, mit jedem Schritt mehr, mit dem er den Gerichtssaal betritt. Kräftige Statur, Glatze, schwarzes Poloshirt, die Brille in den Ausschnitt geklemmt, so kommt er herein. Helge B., 53 Jahre. Am linken Handgelenk eine schwere Uhr, rechts ein goldenes Kettchen. Hinter sich sein Anwalt, Zeugenbeistand, im Anzug, Glatze auch er.

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Die ersten Fragen sind Formalia. Eigentlich.

Beruf? „Dachdecker.“

Adresse? Will er nicht sagen. „Nehmen Sie meine Ladeadresse: BKA, Wiesbaden.“

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Das reicht Uta Engemann, der Vorsitzenden Richterin, aber nicht. Sie könne ihn auch in Beugehaft nehmen, droht sie Helge B. Aber das beeindruckt ihn offenbar nicht. „Bin auch schon bedroht worden“, sagt er nur, im Stuhl zurückgelehnt. Das müsse genügen. Und am Ende genügt es. Keine Adresse. Und dennoch keine Beugehaft. Was gegen die Durchsetzungsfähigkeit der Richterin spricht. Und für die seine.

Helge B. wirkt wie jemand, der sich im Leben ungerne etwas sagen lässt. Und der auch meistens damit durchkommt.

Im Milieu der kriminellen Aussteiger

Im Prozess gegen den auch im Fall Madeleine McCann, dem berühmtesten Vermisstenfall Europas, verdächtigen Christian B., der seit Februar vor dem Landgericht Braunschweig läuft, ist Helge B. ein zentraler Zeuge. Er ist es, der zusammen mit einem Freund die Videos gesehen haben will, auf denen Christian B. die Vergewaltigungen zweier Frauen in Portugal festgehalten haben soll. Zugleich aber – und das macht seine Aussage weit über diesen Prozess hinaus interessant – ist er auch derjenige, der die Ermittler im Fall Maddie McCann auf die Spur Christian B.s gebracht hat. Sie habe „gar nicht geschrien“, das will Helge B. von ihm über das 2007 verschwundene Mädchen gehört haben.

Wenn Helge B. nun also unglaubwürdig wirkte: Sind seine Angaben im Fall Maddie dann auch nicht verlässlich? Und umgekehrt: Ist Helge B. ein zuverlässiger Zeuge, auch im Fall Maddie?

Die Eltern der verschwundenen Madeleine McCann, Kate und Gerry McCann, bei einer Pressekonferenz im Jahr 2007.

Die Eltern der verschwundenen Madeleine McCann, Kate und Gerry McCann, bei einer Pressekonferenz im Jahr 2007.

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Was Helge berichtet, spielt in den Nullerjahren im Süden Portugals, im Milieu von kleinkriminellen Aussteigern aus Deutschland. Helge B. und Christian B. gehören damals zu einem drogenaffinen Kreis von Männern, die sich auf den Diebstahl von Solarpaneelen, Diesel und Einbrüche aller Art, nun ja: spezialisiert haben – und die auch untereinander wenig Skrupel kennen: Als Helge B. und ein Kumpel hören, dass Christian B. gerade im Gefängnis sitzt, fahren sie zu dessen Haus und nehmen mit, was sich mitnehmen lässt. Diesel, „300, 400, 500 Liter“, sagt Helge B., dann „ein Auto, eine Videokamera, ein Dino-Set“.

„Ein Dino-Set?“, fragt die Richterin. „Ein Dietrich-Set“, erklärt B. Was er damals eben nützlich fand. All das nahm er mit, zum Wohnwagenpark „Outlaws Altrhein Germany“. Da lebte er.

„Manni, guck‘ dir das mal an!“

Doch als folgenreich erwiesen sich vor allem zwei Kästen mit Videokassetten, die er damals eingesteckt habe. Darauf viel Unverfängliches, „Touristenkram“, wie Helge B. sagt. Und dann etwas, das ihn so erschrocken habe, dass er erst mal seinen Kumpel gerufen habe. „Manni, guck‘ dir das mal an!“

Da zu sehen gewesen seien die Vergewaltigung einer älteren und einer jüngeren Frau. Die ältere Frau habe auf einem Bett gelegen, das Nachthemd hochgeschoben, auf den Augen eine grau bemalte Schwimmbrille, so dass sie nichts sehen konnte. Ausgepeitscht habe der Mann, getragen habe er eine Sturmhaube, sich ein Kondom übergezogen, die Frau auf den Bauch gedreht. „You fucking bastard, you fucking asshole“, habe die Frau gerufen, aber der Mann habe nicht abgelassen. Am Ende habe der Mann dann auf dem Bettrand gesessen und seine Haube abgezogen. „Und da war ich dann schon ziemlich überrascht, als ich den Christian da gesehen habe.“

Am Ende habe er dann der Frau ein Kissen aufs Gesicht gedrückt. „Und dann war das Video zu Ende.“

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Gereizte Stimmung

Ein zweites Video habe eine jüngere Frau gezeigt, an einen Pfahl in Christian B.s Haus gefesselt. „Ey Christian, das ist eine Vergewaltigung“, habe sie in dem Video gesagt. Da habe er gewusst, was kommt, sagt Helge B. Die Videos sind verschwunden, B. weiß nicht mehr, wo in Portugal sie ihm abhanden kamen, deshalb kommt es auf seine Aussage an. Christian B. sitzt dabei gut fünf Meter entfernt, zwischen seinen Anwälten, äußerlich ungerührt.

Die Stimmung im Gerichtssaal aber ist gereizt. Die Verteidiger Christian B.s stellen einen Befangenheitsantrag gegen die Staatsanwältin. Der abgelehnt wird. Die Richterin weist die Oberstaatsanwältin zurecht, weil diese die Aussagen des Zeugen so kommentiere, dass es selbst die Richter hören könnten. Der Anwalt und Zeugenbeistand Helge B.s wehrt sich gegen Anweisungen der Richterin, sich nicht mit seinem Mandanten zu besprechen: „Behandeln Sie mich nicht, als wäre ich sieben!“

Es geht um viel in diesem Prozess. Nicht nur um die drei Fälle von Vergewaltigung und zwei Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern, derentwegen Christian B. jetzt angeklagt ist.

Aufgenommen im Jahr 2005

Helge B. schildert, was er gesehen haben will, so detailliert, wie es nach 18 Jahren durchaus bemerkenswert ist. Gesehen haben will er die Videos 2006, aufgenommen worden seien sie, laut Notiz auf der Kassette, ein Jahr zuvor. Er beschreibt die Gerte, mit der Christian B. die Frau ausgepeitscht habe, malt sie auf, „vorne mit so einem Lederding dran“. Erwähnt die zweite Kamera, die bei der Vergewaltigung der älteren Frau im Hintergrund stand. Beschreibt, wie die Beine der Frau seitlich aus dem Bett ragten. Was Helge B. auf immer neue Nachfragen des Gerichts schildert, ist ohne größere Widersprüche. Und durchaus genau.

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Oder geht es ihm darum, Christian B. um jeden Preis zu belasten? Eine möglicherweise noch bestehende alte Rechnung zu begleichen? „Wir waren damals keine guten Freunde, wir werden auch keine mehr werden“, räumt Helge B. ein. Sie mochten sich nicht: Christian B., den damals alle den „Oberkellner“ nannten, wegen seiner gepflegten Erscheinung, und er, Helge B., der wohl auch schon immer lieber Bestimmter als Bestimmter war. Zugleich jedoch beteuert er, mit seinem eigenen Fund zu hadern. Die Videokassetten mitgenommen und angesehen zu haben, „das war der größte Fehler meines Lebens, das bereue ich bis heute“. Weil sie ihm vor allem Ärger und Unruhe eingetragen habe. Sagt er, der selbst bis 2017 noch in Griechenland im Gefängnis saß. „Ich will nicht jammern, aber dass sich mein Leben so ändern würde, habe ich nie gedacht.“ Seinen Job habe er verloren, ebenso seine Freunde. „Die Personenschützer des BKA“, sagt er, „sind die einzigen Freunde, die mir geblieben sind.“ Noch einmal, beteuert er, würde er sich nicht an die Polizei wenden.

Schweigen über Fall Maddie

Es gibt aber auch noch ein Thema, über das Helge B. nicht sprechen will: seine Aussagen zum Fall Madeleine McCann, dem damals dreijährigen britischen Mädchen, das 2007 aus einer Ferienwohnung an der Algarve entführt wurde und nie wieder auftauchte. Helge B. schildert, er habe Christian B. noch einmal 2008 getroffen, auf einem Hippie-Festival in Spanien. Dort, so hat er in einem Interview einmal gesagt, habe Christian B. sich ihm gegenüber über Maddie McCann geäußert. 2018 hat er sich mit diesem Wissen dann an Scotland Yard gewandt. Genau darüber aber will er jetzt, in diesem Prozess, nicht reden. Und dabei bleibt er auch, allen Nachfragen zum Trotz.



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