Home News Deutschland Prozess gegen Reichsbürger: Ein Prozess, der die Justiz an ihre Grenzen bringt

Prozess gegen Reichsbürger: Ein Prozess, der die Justiz an ihre Grenzen bringt


An diesem Montag beginnt das Verfahren gegen die Gruppe Reuß. Noch nie waren auf einmal so viele Verdächtige angeklagt. Fragen und Antworten zum Reichsbürgerprozess

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Ein Gerichtsverfahren gegen 26 Personen aus der mutmaßlichen “Reichsbürger”-Gruppe von Heinrich XIII. Prinz Reuß hat am Montag in Stuttgart begonnen. Die Gruppe steht im Verdacht, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Planung eines hochverräterischen Unternehmens, mit dem Ziel, die demokratische Ordnung in Deutschland mit Gewalt zu stürzen. Es handelt sich laut Andreas Singer, Präsident des Oberlandesgerichts, um eines der größten Staatsschutzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik. Verdächtige aus der Gruppe, einschließlich früherer und aktiver Bundeswehrmitglieder, des ehemaligen Polizisten Michael F. aus Niedersachsen sowie der ehemaligen AfD-Bundestagsabgeordneten und Richterin Birgit Malsack-Winkemann, werden in getrennten Verfahren in Stuttgart, Frankfurt und München angeklagt. Ein logistischer Grund dafür ist die Größe des Gerichtssaals, der alle Verdächtigen aufnehmen muss. Hohe Haftstrafen sind möglich und der Prozess ist bis Anfang 2025 angesetzt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat eine harte Gangart gegen solche extremistischen Strukturen angekündigt.

Prozess gegen Reichsbürger: Tausende Polizisten waren bei der Großrazzia gegen die Reichsbürgergruppe im Dezember 2022 im Einsatz. Neun Angeklagte müssen sich nun in Stuttgart vor Gericht verantworten.
Tausende Polizisten waren bei der Großrazzia gegen die Reichsbürgergruppe im Dezember 2022 im Einsatz. Neun Angeklagte müssen sich nun in Stuttgart vor Gericht verantworten.
© [M] ZEIT ONLINE, Fotos: Carsten Koall/​Getty Images

Diesen Montag beginnt in Stuttgart der Prozess gegen die mutmaßliche Reichsbürgergruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß. “Das ist eines der größten Staatsschutzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik”, sagte Andreas Singer, der Präsident des Oberlandesgerichts, der Nachrichtenagentur dpa. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu dem Verfahren.

Wer ist angeklagt?

Insgesamt 26 Verdächtige. Ein weiterer 72-jähriger Angeklagter ist im März gestorben. Zu den Beschuldigten gehören bereits bekannte sogenannte Reichsbürger wie der mutmaßliche Rädelsführer Heinrich XIII. Prinz Reuß oder der ehemalige Polizist Michael F. aus Niedersachsen. Angeklagt sind auch frühere und aktive Angehörige der Bundeswehr, darunter des Kommandos Spezialkräfte. Aber auch die ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete und Richterin aus Berlin, Birgit Malsack-Winkemann, wird dem Kern der Gruppe zugerechnet. Noch nie gab es in Deutschland ein Terrorismusverfahren, bei dem so viele Verdächtigte auf einmal festgenommen wurden. 

Was wird der Gruppe vorgeworfen?

Der Tatvorwurf lautet: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens. Konkret soll das Netzwerk geplant haben, die demokratische Ordnung in Deutschland mit Gewalt zu beseitigen. Der Deutsche Bundestag sollte den Plänen zufolge gestürmt und Mitglieder der Regierung sollten festgesetzt werden. Dabei, so die Anklage, hätte die Gruppe auch Tote in Kauf genommen. Teil der Pläne waren demnach auch sogenannte Feindeslisten von Funktionsträgern auf Bundes-, Landes-, Kreis- und kommunaler Ebene. Im Anschluss hätte eine Übergangsregierung mit den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs eine neue staatliche Ordnung in Deutschland verhandeln sollen. Für sogenannte Reichsbürger existiert das Deutsche Reich (1871–1945) weiter; daraus leiten sie ihren Namen ab. Die Bundesrepublik und ihre Gesetze erkennen sie nicht an. 

Lesen Sie hier, wie gefährlich die Pläne der Gruppe waren und wie realistisch ihre Umsturzpläne.

Was ist das Besondere an dem Verfahren?

Ungewöhnlich macht das Verfahren seine Größe. Die zuständige Generalbundesanwaltschaft hat die Verfahren gegen die Gruppe in drei einzelne Prozesse aufgeteilt. In Stuttgart geht es um den sogenannten militärischen Arm, in Frankfurt am Main sind ab 21. Mai die mutmaßlichen Rädelsführer angeklagt, in München ab 18. Juni die übrigen mutmaßlichen Mitglieder. Dass eine zusammenhängende Gruppe vor drei unterschiedlichen Gerichten angeklagt wird, hat es in der Justizgeschichte der Bundesrepublik bisher nicht gegeben. Ein Grund dafür ist zum einen die Platzfrage: In Kalabrien wurde für einen Antimafiaprozess eine Lagerhalle zu einem Gerichtssaal umgebaut, mehr als 300 Angeklagten wurde der Prozess gemacht. In Deutschland gibt es keine Gerichtssäle in dieser Größenordnung. Alleine in Stuttgart gibt es neun Angeklagte, dazu fünf Richter, zwei Ergänzungsrichter und 22 Verteidiger. Zudem hätten bei jedem Prozesstag alle ursprünglich 27 Angeklagten im Gericht sitzen müssen – eine logistische Herausforderung. Schon jetzt sind in Stuttgart alle neun Angeklagten in unterschiedlichen Gefängnissen rund um Stuttgart untergebracht, um Absprachen zu verhindern. 

Wir wollen nicht in irgendeiner Turnhalle einen Schauprozess abziehen, sondern müssen uns mit den Individuen auseinandersetzen.

Andreas Singer, Präsident des Oberlandesgerichts

Können die einzelnen Gerichte auch zu unterschiedlichen Urteilen kommen?

Das ist theoretisch möglich. Jedes Gericht muss seine eigenen Beweise erheben und zu einem eigenen Urteil kommen. Grundsätzlich seien am Ende auch sich widersprechende Urteile möglich, sagte der Stuttgarter Gerichtspräsident Singer der dpa. Das gilt aber als unwahrscheinlich. 

Wie werden die Gerichte vorgehen?

Bei der Gruppe Reuß soll es sich um eine kriminelle Vereinigung gehandelt haben. Wie Legal Tribune Online schreibt, gibt es in Prozessen gegen solche Gruppen zwei große Themen. Es geht zum einen darum, herauszufinden, wie die Vereinigung gegründet wurde, wie ihre Strukturen sind und wie Entscheidungen getroffen wurden. Zum anderen geht es darum, wie die einzelnen Angeklagten in diesem Gesamtkonstrukt agiert haben – eher als Befehlsempfänger oder als Mastermind, das die geplanten Taten vorantrieb?

Wie lange wird der Prozess dauern?

Der Prozess ist zunächst bis Anfang 2025 terminiert. Zweimal wöchentlich soll verhandelt werden. Alleine in Stuttgart sind 300 Zeuginnen und Zeugen benannt, darunter 270 Polizisten. Auch die Angeklagten der anderen beiden Prozesse könnten in Stuttgart vernommen werden – wenn sie aussagen wollen. Wie lange das Verfahren tatsächlich dauern wird, lässt sich derzeit noch nicht abschätzen.

Welche Strafen drohen den Angeklagten?

Es sind Haftstrafen zwischen einem und zehn Jahren möglich. Einer der Angeklagten widersetzte sich einer Durchsuchung seiner Wohnung und schoss auf Polizisten. Zwei von ihnen wurden dabei verletzt. Er ist zusätzlich wegen Mordversuchs angeklagt. Dafür ist theoretisch eine lebenslange Haftstrafe möglich. 

Wie reagiert die Politik auf die Prozesse?

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat eine “harte Gangart” gegen derartige extremistische Strukturen angekündigt. “Diese militanten ‘Reichsbürger’ sind getrieben vom Hass auf unsere Demokratie”, sagte Faeser der Nachrichtenagentur AFP am Sonntag in Berlin. “Wir werden unsere harte Gangart weiter fortsetzen, bis wir militante ‘Reichsbürger’-Strukturen vollständig offengelegt und zerschlagen haben”, fügte sie hinzu. Niemand in dieser extremistischen Szene solle sich sicher fühlen.



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