FOCUS online: Zunächst einmal, wie geht es Ihnen? Sie mussten ja kürzlich not-operiert werden.

Kristina Vogel: Mir geht es wieder gut. Ich hatte am 13. April eine Thrombektomie, bei der die Thromben in meiner Lunge abgesaugt werden mussten. Diese Operationsmethode ist in Deutschland zwar recht neu, bei mir hat es aber wirklich gut funktioniert. Mir ging es direkt danach wieder viel besser, dennoch muss ich mich noch ein paar Tage erholen.

Sie haben schon vom Krankenhausbett ein lächelndes Selfie geschickt und auch ihren Humor nicht verloren. „It’s a bit like a family reunion here”, kommentierten Sie. Eine Anspielung auf Ihren Unfall im Jahr 2018. Können Sie uns einmal dahin zurücknehmen?

Vogel: Kurz zusammengefasst: Damals stand jemand auf der Radrennbahn, der dort nicht hätte stehen dürfen. Ich konnte ihn nicht sehen und bin mit über 60 km/h frontal in ihn reingeknallt. Als ich liegend auf der Radrennbahn wach wurde, wusste ich sofort, dass es ernst um mich ist.

Meine Freunde und Unfallhelfer befreiten mich von meinem Helm und von meinen sehr engen und maßangepassten Radschuhen. Als ich meine Schuhe sah, wie diese von mir weggetragen wurden, ich aber gar nicht merkte, dass jemand überhaupt an meinen Füßen war, da wusste ich sofort: Das mit Laufen, das wird nichts mehr! Nennen wir es Fluch und Segen zugleich von Menschen im Leistungssport: Man kennt seinen Körper ganz genau.

Und eben jetzt bei der neuen OP habe ich viele wieder gesehen, die mich damals betreut haben. Ich hatte wirklich tolle Krankenschwestern, Pfleger und Ärztinnen und Ärzte. Ich habe mich sehr gefreut, alle wiederzusehen und zu hören, was bei denen die letzten sechs Jahre so passiert ist. Auch wenn dies in einem netten Café natürlich schöner gewesen wäre als bei einem Krankenhausaufenthalt …

Als zweifache Olympiasiegerin und siebzehnfache Weltmeisterin sind Sie die erfolgreichste Bahnradsportlerin aller Zeiten. Wie hart ist es, vielleicht gerade als Profisportlerin, wenn man plötzlich im Rollstuhl sitzt?

Vogel: Es kommt darauf an, worauf die Frage hinauszielt. Wenn sich das Leben so radikal verändert und vor allem innerhalb eines Wimpernschlags, dann macht das schon hier und da Angst. All das, was man kennt, gibt es nicht mehr und man muss sich neu orientieren. Ich bin aber ein sehr pragmatischer Mensch und versuche immer, aus den Gegebenheiten das Beste zu machen.

Wenn Sie im Prinzip durch die Blume fragen, ob es nicht sehr hart im Rollstuhl ist, dann muss ich anders antworten. Natürlich ist das Leben ohne Behinderung einfacher, aber das Leben mit Behinderung ist nicht weniger lebenswert. Die Gegebenheiten und die strukturelle Diskriminierung sind es, die es so schwermachen! Ansonsten bin ich einfach eine Frau, die nicht laufen kann.

„Ich finde, dass es bei allen Dingen zwei Entscheidungen gibt“

Sie wirken immer positiv und optimistisch. Gab es eine Zeit nach dem Unfall, als das anders war? Sie vielleicht auch mal mit dem Schicksal haderten?

Vogel: Ich finde, dass es bei allen Dingen immer zwei Entscheidungen gibt:

1. Ich bedauere mich und sitze zuhause.

2. Ich versuche, das Beste aus den Gegebenheiten zu machen und die Welt nach meinen Vorstellungen zu gestalten.

Das klingt natürlich recht leicht, ist es manchmal aber ganz und gar nicht. Ich bin einfach lieber realistisch mit der Einschätzung der Fakten und versuche drumherum optimistisch alles so zu gestalten, wie es für mich passt.

Wer oder was hat Ihnen in der Zeit nach dem Unfall geholfen?

Vogel: Ich finde, es ist wichtig zu sagen, dass alle Dinge, die man im Leben so schafft, eigentlich immer Teamerfolge sind. So war es in erster Linie mein Partner Michael – man kennt ihn als „Bibbii“ –, meine Familie und engsten Freunde und die Bundespolizei, die mir den Rücken gestärkt haben, auch das Team im Krankenhaus in Berlin. Ich habe mich im Prinzip einfach nur auf das Gesundwerden konzentrieren können.

„Es ist okay, wenn man trauert“

Was würden Sie anderen Betroffenen raten, um nicht den Mut zu verlieren?

Vogel: Es ist okay, wenn man trauert. Das zeigt, dass wir Dinge verloren haben, die uns wichtig sind. Doch am Ende liegt es an uns persönlich, wie wir unser Leben gestalten. Das macht niemand für uns. Von daher habe ich lieber einfach Spaß!

Sie sind eine Kämpferin. Sagen auch: „Man muss etwas leisten, dass dann auch das Glück kommen kann.“ Eine Einstellung, die Sie nach eigener Aussage von ihren Eltern übernommen haben. Können Sie das näher erläutern?

Vogel: Im Prinzip habe ich durch meine Mutter gelernt, dass man im Leben einfach nichts geschenkt bekommt. Man kann nicht auf der Couch sitzen und erwarten, dass das große Glück kommt. Dies kommt nur, wenn man versucht hat, die Bedingungen vorher zu schaffen. Im Sport sagt man auch „Ass to the grass“ oder „Im Leben gibt es keinen Fahrstuhl. Man muss die Treppen nehmen!“

„Ich bin immer noch ich. Nur die Art, wie ich mich fortbewege, hat sich verändert“


Ihr Buch
sollte ein Abschluss sein, ein Neuanfang – vom „gehenden Leben“ ins „rollende Leben“, wie Sie einmal beschrieben. Fühlt es sich wie zwei Leben für Sie an an?

Vogel: Irgendwie ja und irgendwie nein. Ich bin immer noch ich. Nur die Art, wie ich mich fortbewege, hat sich verändert. Andererseits hat mich der Unfall 2018 sehr erwachsen gemacht. Von daher würde ich sagen, dass der Übergang irgendwie fließend ist.

Tatsächlich war das gar nicht ihr erster schlimmer Radunfall. Es gab schon mal einen, bei dem sie auch im Koma lagen und es auch unsicher war, ob sie das überhaupt überleben …

Vogel: 2009 hat mir ein Kleinbus die Vorfahrt genommen, ich konnte nicht ausweichen und bin durch die letzte Seitenscheibe geflogen. Damals habe ich mir viele Knochen in meinem Körper gebrochen. Unter anderem auch der fünfte Brustwirbel. Hätte ich nicht so eine gute Muskulatur gehabt, die meine Wirbelsäule wie ein Airbag geschützt hätte und sehr gute Ersthelfer, die mich nicht in die stabile Seitenlage gedreht haben, dann wäre ich damals schon querschnittsgelähmt gewesen.

Bei vielen ist die Erste-Hilfe-Ausbildung lange her. Hätte man mich nicht achsengerecht gedreht, dann hätte sich meine Wirbelsäule verschoben und hätte das Rückenmark verletzt. Daher rate ich immer, das Erste-Hilfe-Training regelmäßig zu wiederholen und sollte die verunfallte Person ansprechbar sein und starke Rückenschmerzen haben, diese vielleicht in der Position verharren lassen oder zumindest nur den Helm abnehmen.

Damals haben Sie im Krankenbett direkt nach einem neuen Rad gefragt.

Vogel: Damals wollte ich nicht, dass nur weil jemand mir die Vorfahrt genommen hat, auch über meine Träume und Ziele entschieden wird. Ich wollte zu den Olympischen Spielen, ich wollte auch Weltmeistertitel bei den Erwachsenen feiern. Im Mai 2009 war der Unfall und knapp acht Monate später nahm ich an der Weltmeisterschaft in Kopenhagen teil. Das Ergebnis, welches ich dort in der Disziplin Sprint erzielte, war das beste Ergebnis einer deutschen Bahnradsprinterin seit über 20 Jahren.

Auch heute sind Sie dem Radsport erhalten geblieben – als Trainerin. Bleibt es Ihre große Leidenschaft oder findet man neue Leidenschaften?

Vogel: Das Feuer für den Radsport brennt natürlich immer noch sehr. Daher bin ich glücklich, als Bundespolizei-Trainerin für den Radsport aktiv zu sein. Matthias John und ich sind ein gutes Team und versuchen, den Athletinnen und Athleten so viel es geht mit auf den Weg zu geben.

„Der Traum, jemals wieder laufen zu können, ist doch noch nicht erloschen“

Am 5. Mai findet der „Wings for Life World Run” statt. Warum ist dieser Lauf so wichtig?

Vogel: Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll: In erster Linie ist es eines der größten Spendenläufe weltweit. 100 Prozent der Einnahmen gehen in die Forschung. Auch wenn ich mir mein Leben so gut es geht gestalte, ist der Traum, jemals wieder laufen zu können, doch noch nicht erloschen. Die „Wings for Life“-Stiftung unterstützt weltweit Forschungsprojekte, die sich das zur Aufgabe gemacht haben. In der letzten Zeit waren einige unterstützte Projekte medial auch sichtbar – mit großen Erfolgen.

Dann natürlich auch, um Sichtbarkeit für Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Wir leben alle gemeinsam in einer Welt, wissen doch aber sehr wenig voneinander. Das hat viele Gründe, aber klar ist: So kann Inklusion und Diversität nicht funktionieren.

Sind Sie heute glücklich beziehungsweise was macht Sie glücklich?

Vogel: Vieles! Ich finde auch, dass wir bei so einer Frage nicht immer nur an die großen Themen denken müssen. Auch die kleinen und alltäglichen Dinge sind für uns als Mensch wichtig. Egal ob es ein Vogel ist, der auf dem Fensterbrett sitzt oder das leckere Spagetti-Eis. Weiterhin habe ich einfach Spaß, mit dem was ich tue. Und mich macht Gerechtigkeit sehr glücklich.

Letzte Frage: Wo sehen Sie sich bzw. Ihre Familie in zehn Jahren?

Vogel: Ich habe aufgehört, so lange Pläne zu machen. Ich hoffe einfach, dass ich Dinge tun kann, die mich glücklich machen und die in der Gesellschaft etwas bewirken.





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