Hannover. Wenn ich an die Songs von Gigi D’Agostino denke, dann denke ich nicht an Nazi-Parolen. Ich denke an die unbeschwerte Zeit um die Jahrtausend­wende, in der wir mit Gameboy-Linkkabeln seltene Pokémon tauschten, wahlweise in Britney Spears oder in die gesamte NSYNC-Belegschaft verliebt waren und unsere größte Sorge war, dass zum Start des neuen Millenniums am 1. Januar 2000 alle Computer abstürzen könnten.

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„Bla Bla Bla“ wurde zum Hit, als die erste Staffel „Big Brother“ auf die Bildschirme kam, zu „The Riddle“ gingen wir zelten und „Another Way“ wurde auf der Klassenfahrt nach Holland in Dauerschleife gepumpt. „L’amour toujours“ wurde erst ein Jahr später zum Hit, als die „L‘Amour Version“ mit der prägnanten Synthie-Melodie erschien – ursprünglich war der Song eine vergleichsweise ruhige Elektroballade.

Die heute bekannte Party-Version, die unter das Genre Italo-Dance fällt, machte Gigi D’Agostino Anfang der 2000er-Jahre zum Szene-Idol. Wer Liebhaber elektronischer Musik ist, und die prägendsten Stücke des Genres aufzählen soll, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch den Song des Italieners nennen. „L‘amour toujours“ ist ein globaler Hit, der auf Festivals Menschen aus der ganzen Welt verbindet.

Heute, 23 Jahre später, hat die romantisierende Erinnerung an das Lied meiner Jugend jedoch einen faden Beigeschmack bekommen. „L‘amour toujours“ nämlich wurde inzwischen von Rechtsextremen gekapert, gilt mittlerweile als eine Art Code unter Neonazis. Das Stück wird auf Dorffesten mit fremdenfeindlichen Parolen versehen – und ebenso von reichen Unternehmertöchtern auf Sylt. Das bricht mir nicht nur das Herz – es stellt mich auch vor eine überaus schwierige Frage: Wie geht man damit um?

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Rassismus-Eklat um Partyvideo im Kultclub Pony auf Sylt

Ein in den sozialen Netzwerken kursierendes Video ist auf große Empörung gestoßen.

Veranstalter wollen Song verbieten

Einige haben die Antwort darauf schon gefunden: „L’amour toujours“ soll künftig nicht mehr auf Feiern gespielt werden. Die Pony-Bar auf Sylt, auf deren Gelände sich der Vorfall ereignet hatte, hat angekündigt, das Lied künftig von der Playlist zu streichen.

Die Veranstalter des Festivals „Krach am Bach“ in Hainichen in Sachsen wiesen ihre DJs laut „Bild“-Zeitung an, den Song nicht mehr zu spielen – am Tag zuvor war es in der Stadt zu einem ähnlichen Vorfall wie auf Sylt gekommen. Der Fußballverein Holstein Kiel, auf dessen Aufstiegsfeier ähnliche Parolen gesungen wurden, kündigte gegenüber den „Kieler Nachrichten“ an, man wolle das Thema analysieren und „für zukünftige Events mitnehmen, um dieser Art von Umdeutung eigentlicher Partymusik keine Bühne zu bieten“.

Auch in den sozialen Medien mehreren sich die Stimmen für einen Boykott des Liedes. „Seit Monaten wird dieser Gigi D’Agostino Song für Nazi-Parolen missbraucht. Spätestens nach dem ekelhaften Video aus Sylt sollte allen DJs klar sein, was dieser Song auslösen kann. Hört auf, ihn zu spielen!“, schreibt jemand auf der Plattform Threads. Auf der Plattform X rufen vereinzelte Nutzerinnen und Nutzer gar zum Verbot des Songs auf.

Mit solchen Vorschlägen allerdings habe ich ein großes Problem – und das nicht nur wegen meiner Nostalgie-Liebe zum Song „L‘amour toujours“.

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Der Song ist weg, das Gedankengut bleibt

Ein Boykott des Liedes würde das Grundproblem nicht lösen. Einen Song nur abzuschalten, weil ein paar Gäste ihn umdichten könnten, kommt einem Wegducken gleich. Die Gäste sind ja weiterhin auf der Party und werden geduldet, ihr Gedankengut ist immer noch da und grassiert. Der Song wird stummgeschaltet, um unschöne Schlagzeilen in der Presse zu vermeiden und um das Problem beiseitezuwischen – aber nicht, um gegen eine menschenfeindliche Haltung anzugehen.

Zum anderen würden wir mit einem solchen Schritt kampflos hinnehmen, dass Rechtsextreme einfach unsere Popkultur kapern können. Der Originalsong „L’amour toujours“ hat nichts, aber auch gar nichts mit Fremden­hass zu tun. Gigi D’Agostino selbst beschreibt das Stück gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) als eine Hommage an die Liebe: „Das ist die einzige Bedeutung, die mein Lied hat“, macht er deutlich.

Viele andere verbinden den Song mit endlosen Partynächten bis in die Morgenstunden, mit Siegesfeiern beim Fußball, mit Urlauben oder, wie ich, mit ihrer Jugendzeit. Die prägnante Synthie-Hook des Liedes wird zu allen möglichen Anlässen umgedichtet. Man hört sie bei Fußballspielen, um die eigene Mannschaft anzufeuern, aber auch Solidaritätshymnen kursieren zum Song im Internet. Warum lassen wir zu, dass ausgerechnet die Neonazi-Version zum Hit wird?

Fangen wir nun an, völlig harmlose Songs zu boykottieren, knicken wir vor einer kleinen, hasserfüllten Minderheit ein. Eine Minderheit, die die wahre Bedeutung von Musik und die Kunst an sich verachtet. Und das wäre erst der Anfang: Jede Künstlerin und jeder Künstler, der einen eingängigen Ohrwurm produziert, müsste künftig Angst haben, dass sein Werk zur rechten Chiffre wird. Neonazis versuchen das längst mit einer ganzen Reihe weiterer Stücke. Laut Recherchen des ZDF werden selbst Partyklassiker wie „Major Tom“ oder „Bailando“ für rechtsextreme Memes missbraucht.

Das Video von dem Vorfall auf Sylt verbreitete sich online

Die fröhliche Selbstgewissheit des Bösen

In einem Nobellokal auf der Nordseeinsel singen junge Menschen aus „besseren“ Kreisen Nazi-Parolen. Ein Mann zeigt mutmaßlich den Hitlergruß. Das Alarmierende liegt in der fröhlichen Selbstgewissheit der Beteiligten. Sie ist leider kein Einzelfall, kommentiert Markus Decker.

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Die Plattformen tragen Verantwortung

Die Lösung müsste vielmehr sein, entschieden gegen solche Entwicklungen vorzugehen und sich dem entgegenzustellen. Große Plattformen müssen rassistische Memes unterbinden, statt sich aus der Verantwortung zu ziehen. Das Kurzvideo­netzwerk Tiktok etwa hätte dem Treiben schon Ende vergangenen Jahres ein Ende setzen können, als Medien wie das RND sie erstmals auf das Problem hinwiesen. Passiert ist das nicht.

Neonazi-Codes und Sprüche sind hier auch Monate später noch kommentier- und suchbar. Auch auf der Plattform Youtube werden Kommentare wie „Deutschland den Deutschen“ nicht automatisch gefiltert. Die sozialen Medien haben maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die fremdenfeindliche Umdichtung des Liedes derart verbreiten konnte – und dass Fremdenhass schließlich zum Hit wurde.

Sicherlich würde es auch helfen, wenn Künstlerinnen und Künstler, die eher für Unterhaltungsmusik und ein breites Publikum stehen, sich deutlicher positionieren. Gigi D’Agostino hat zwar die Bedeutung seines Liedes erläutert, wird darüber hinaus aber wenig konkret. Helene Fischer hingegen hat einmal kurzen Prozess gemacht und die NPD verklagt, weil die ihren Song „Atemlos“ im Wahlkampf einsetzte. Später positionierte sich die Sängerin mehrfach öffentlich gegen Rechtsextremismus. Neonazis dürften wohl wenig Lust haben, sich noch einmal an dem Song zu vergreifen.

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Mehr Zivilcourage ist gefragt

Und nicht zuletzt müssen Veranstalter und auch das Partypublikum Maßnahmen ergreifen, was, zugegeben, in der Praxis das komplizierteste Unterfangen sein dürfte. Es bräuchte zum Beispiel smarte DJs, die am Mikrofon unmissverständlich die Message des Liedes deutlich machen und das Gemeinschaftsgefühl herausarbeiten. Es bräuchte Security-Mitarbeiterinnen und ‑Mitarbeiter, die umgehen reagieren, sobald jemand fremden­feindliche Parolen anstimmt.

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Und nicht zuletzt bräuchte es eine Sensibilisierung des Publikums. Es kann ja nicht sein, dass eine Gruppe von Rich Kids in einem Club „Deutschland den Deutschen“ grölt und alle anderen nur verwundert daneben stehen und schlimmstenfalls sogar ironisch mitsingen. Das erzeugt genau die Bilder, die Rechtsextreme zeigen wollen – nämlich, dass eine vermeintliche „Mehrheit“ hinter diesen Positionen steht. Die „Mehrheit“ ist aber bestenfalls der Rest des Clubs – und von ihm ist in solchen Momenten Zivilcourage gefragt.

Jeder, der auf einer Party rassistische Parolen singt, muss wissen, dass ein solches Verhalten Konsequenzen haben wird. Erst wenn das unmissverständlich klar ist, sind wir der Lösung des Problems einen Schritt näher. Ein Boykott von „L‘amour toujours“ hingegen verlagert das Problem nur – und spielt Rechtsextremen schlimmstenfalls noch in die Karten.



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