Warum braucht es das Wiener Aktionismus-Museum (WAM)?
Der Wiener Aktionismus ist Österreichs bedeutendste Kunstrichtung nach dem Zweiten Weltkrieg und einer der bedeutendsten Beiträge zur Avantgarde-Kunst der 1960er und 1970er Jahre insgesamt. International haben sich in dieser Zeit ja verschiedene Aktionskunstformen wie die Performance, das Happening und Fluxus herausgebildet – in diesem Zusammenhang ist der Wiener Aktionismus als ganz besondere, körperlich radikale Kunstbewegung entstanden, die für alles Nachfolgende Maßstäbe gesetzt hat. Deswegen braucht Wien auf jeden Fall einen Ort, an dem der Wiener Aktionismus dauerhaft kontextualisiert wird.
Warum hat das WAM dann erst im März dieses Jahres eröffnet?
Es wurde sich lange auf das Museum moderner Kunst (mumok) in Wien als internationales Kompetenzzentrum für den Wiener Aktionismus verlassen. Zudem wird der Wiener Aktionismus immer wieder politisch aufgeladen, und es hängt stark von der kulturpolitischen Situation ab, wie viel Sichtbarkeit man ihm einräumt. Konservative Kräfte wollten nicht, dass eine solch extreme Avantgarde-Bewegung die Stadt gleichsam überrepräsentiert.
Interview
©Studiokoekart
Julia Moebus-Puck ist Kunsthistorikerin und wurde 2023 mit der Direktion des Wiener Aktionismus-Museum (WAM) betraut, das im März 2024 eröffnet hat. Zuvor arbeitete sie als Kunstvermittlerin unter anderem für das Max Ernst Museum in Brühl, das Arp Museum Bahnhof Rolandseck, die Art Basel und das Albertina Museum Wien. Von 2020 bis 2022 baute sie das Ausstellungsarchiv von Richard Long auf, dem Hauptvertreter der Land Art.
Nun hatte die Politik ja aber gar nicht so viel mit dem WAM zu tun, da es sich um eine private Institution handelt.
Richtig, das Museum ist eine Privatinitiative von sechs Sammlern, die die restlichen Bestände der Sammlung Friedrichshof aufgekauft haben, als diese aufgelöst wurde – das war bis dahin die umfangreichste Sammlung von Arbeiten der Aktionisten. Die Käufer waren sich der kunsthistorischen Bedeutung dieser Werke so bewusst, dass sie sie unbedingt zusammen in einem Museum kontextualisieren wollten – so ist das WAM entstanden.
Die Wiener Aktionisten waren vier Männer: Otto Muehl, Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler und Günter Brus. Sie haben mit ihren eigenen Körpern Kunst gemacht, aber auch mit denen von Frauen. Aktionen, bei denen sich Frauen von ihnen nackt einschnüren oder anderweitig »bearbeiten« haben lassen, und so dann einem Publikum zur Schau gestellt wurden, muten heute nicht gerade feministisch an.
Letzte Woche habe ich eine Führung gegeben, bei der eine jüngere Frau recht schockiert von einigen Fotografien war. »Überall stehen auf diesen Fotos Männer um einen weiblichen nackten Körper herum«, meinte sie. Ich selbst habe die Aktionen tatsächlich nie aus der Perspektive der Geschlechterrollen rezipiert – aber je öfter ich mit solchen Beobachtungen konfrontiert werde, desto deutlicher sehe ich diesen Aspekt. Ich finde es aber sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Situationen durchaus ambivalent waren. Wenn zum Beispiel Ana Brus – die als Ehefrau von Günter Brus oft beteiligt war – jetzt sagt, manche Aktionen seien für sie fast emanzipatorische Akte gewesen, dann müssen wir das auch berücksichtigen.
Inwiefern könnten solche Darstellungen von nackten Frauenkörpern emanzipatorische Akte gewesen sein?
Es kommt natürlich auf den Kontext an, aber heute wird das Zeigen nackter weiblicher Körper eher nicht mehr mit Befreiung assoziiert. Zur Zeit der Sexuellen Revolution war das noch anders: Nackte Körper waren ein Tabubruch. Dazu kommt, dass eine solche Aktion ja nicht die Realität bestätigen sollte, sondern eine Provokation war. Es ging den Künstlern ja vielleicht auch darum, bestimmte Rollenbilder zu kritisieren, indem sie sie überspitzten.
Der Wiener Aktionismus wirkt oft ziemlich brutal und blutrünstig. Ich denke zum Beispiel an die Aktion »Blutorgel«, bei der ein totes Lamm gekreuzigt, ausgeweidet und zerrissen wurde. Was war daran fortschrittlich?
Die Künstler haben Handlungen beziehungsweise körperliche Vorgänge wie Sich-Übergeben, Onanieren, Urinieren, Defäkieren sowie die dazugehörigen Körperausscheidungen und Blut radikal thematisiert. Sie waren der Meinung, dass diese Tabuthemen eben zum Menschen dazugehören und so dargestellt werden müssten, damit sich gesellschaftlich etwas verändern kann. Dieses zivilisationskritische Moment haben auch die Aktionen mit den Tierkadavern. Tieropfer sind ja ganz zentrale Elemente der verschiedensten Kulturen der Welt, sie gehören zum Ursprung unserer Zivilisation.
Das wirkt so, als hätten die Künstler zurück zum Archaischen gewollt – aber ist das die Lösung? Müsste es nicht eher darum gehen, eine andere, bessere Zivilisation aufzubauen, statt die Zivilisation als Ganze zu verwerfen?
Es ging auf jeden Fall darum, eine andere als die damalige Zivilisation zu schaffen. Die Wiener Aktionisten dachten ja, dass man, wenn man an diese Ursprünglichkeit zurückgeht, ein neues Bewusstsein schafft. Wenn ich Jugendliche durch die Ausstellung von Hermann Nitsch führe, dann finden sie den Umgang mit den Tierkadavern oft total ekelhaft – aber wenn ich sie dann frage, ob sie das abgepackte Hackfleisch von Billa [österreichische Supermarktkette, Anm. d. Red.] essen, wird ihnen klar, dass dafür ja auch Tiere gestorben sind. Um das Bewusstsein für solche Zusammenhänge zu schärfen, kann es vielleicht nicht schaden, mal zurück zum Archaischen zu gehen.
Der Wiener Aktionismus wird immer wieder mit Sigmund Freud und der von ihm begründeten Psychoanalyse in Verbindung gebracht. Welche Anknüpfungspunkte gibt es da?
Unglaublich viele. Die ganze moderne Kunst rekurriert ja auf mannigfaltige Weise auf die Psychoanalyse. Alle Künstler der Wiener Moderne – Oskar Kokoschka, Gustav Klimt, Egon Schiele – waren von Freuds Erkenntnissen beeinflusst. Es hat sie alle sehr beschäftigt, wie Körper und Psyche zusammenhängen. Und wenn man sich nun zum Beispiel die »Aktionsskizzen« von Günter Brus in unserem Museum anschaut, dann wird deutlich, wie sehr dieses Arbeiten mit dem geschundenen, defragmentierten Körper von Schiele beeinflusst ist. Die Aktionisten haben die Form des körperlichen Arbeitens und Denkens in der Wiener Moderne fortgeführt, indem sie das, was sie auf dem Papier oder der Leinwand sahen, in den Raum holten. Ein anderer Bezugspunkt zu Freud ist, dass alle Aktionisten ihrer Kunst eine kathartische Wirkung zugesprochen haben. Wenn zum Beispiel Muehl und Nitsch Farbe auf die Leinwand geworfen und sich darin gewälzt haben, dann haben sie das als Prozess des Ausagierens verstanden, durch den unbewusste Triebe zum Vorschein kommen und zu einer neuen Seinserfahrung führen sollten.
Performance-Kunst ist ihrem Wesen nach vergänglich. Anders als Gemälde oder Skulpturen lässt sie sich nur vermittelt ausstellen. Wie gehen Sie das in Ihrem Museum an?
Die Aktionisten haben sich schon zu Lebzeiten damit beschäftigt, wie sie ihre ephemeren Aktionen dokumentieren und aufbereiten können. Das heißt, sie haben ihre Arbeiten schon von Anfang an fotografieren oder auch filmen lassen. Bei der fotografischen Dokumentation gab es zwei verschiedene Herangehensweisen: Zum einen das klassische Abfotografieren von Handlungsabläufen, zum anderen die inszenierte Fotografie, die alle Aktionisten zwischen 1964 und 1966 praktiziert haben. Da wurden Aktionen gar nicht für die Öffentlichkeit realisiert, sondern nur fürs Foto. Ebenso sind die Malereien und Zeichnungen der Künstler, die immer wieder während ihrer aktionistischen Tätigkeiten entstanden sind, eine Art der Dokumentation. Hermann Nitsch schuf auch sogenannte Reliktcollagen. Und dann gibt es auch noch Partituren: Jede Aktion ist im Voraus in einer Partitur festgehalten worden, es waren also keineswegs improvisierte Geschehnisse. Als Kuratorin muss man sich überlegen, was genau man mit einer Ausstellung erzählen möchte, und das kann jeweils ganz unterschiedliche Mittel verlangen. Man muss also immer wieder neu darüber nachdenken, welche Form der Präsentation die geeignetste ist.
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