Karl-Theodor zu Guttenberg: Zeitalter der Einzelgänger: Was in Österreich gesichert falsch läuft, betrifft auch uns
Montag, 27.05.2024, 21:12
Karl-Theodor zu Guttenberg besorgt das schwindende Miteinander in einer Welt, in der echte Freundschaften immer weniger werden. KT verweist auf Zahlen aus Österreich und den USA, wo bereits von Freundschafts-Rezession gesprochen wird.
Sonntagabend. Ich stehe an der Kasse im Edeka am Hauptbahnhof. Nicht alleine. Viele andere tummeln sich in diesem Widerstandsnest gegen deutsche Ladenschlussromantik. Es gibt attraktivere Optionen, um die Woche ausklingen zu lassen. Geschenkt.
Ich war verreist, der Kühlschrank ist gähnend leer. Vor mir ein älteres Pärchen. Und eine Gruppe Jugendlicher. Sie tragen alle das gleiche T-Shirt. Aufschrift: „Für immer Freunde“. Die Freunde wirken allerdings merkwürdig distanziert. Sie unterhalten sich nicht, starren lediglich auf ihre Handys. In der anderen Hand jeweils ein Six-Pack mit Bierdosen.
„Unsere Kinder wissen schon gar nicht mehr, was Freundschaft bedeutet“, sagt der Mann vor mir zu seiner Frau. „An allem sind nur diese grässlichen neuen Technologien schuld.“
„Wieso, wir haben doch auch nur uns.“ Er grummelt etwas Unverständliches.
Über Karl-Theodor zu Guttenberg
Karl-Theodor zu Guttenberg wurde bekannt als Bundesminister. Heute ist der ehemalige Politiker Unternehmer, Co-Produzent und Moderator von Dokumentarfilmen und anderen publizistischen Formaten. Er veröffentlicht in englisch- und deutschsprachigen Medien. Seit Juni 2023 ist KT zusammen mit Gregor Gysi Host des Podcasts “Gysi gegen Guttenberg“.
In USA spricht man von Freundschafts-Rezession
Die Szene erinnert mich an eine Diskussion, die ich kürzlich in den USA hatte. Dort wird mittlerweile von einer „Friendship Recession“ gesprochen.
„Freundschaften werden heute idealisiert“, sagte mir ein Soziologe. Er stützte seinen ernüchternden Befund auf aktuelle Studien. Unabhängig von den Auswirkungen der Covid-Pandemie bestätigten sie einen Langzeittrend.
Demnach würden Amerikaner erheblich weniger Zeit mit Menschen außerhalb ihrer Familie verbringen als noch vor zehn Jahren. Dies gelte für alle Altersklassen und Einkommensniveaus, für Stadt- wie Landbevölkerung gleichermaßen.
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„Wir leben in einem Zeitalter der Einzelgänger“, stellte er lakonisch fest. Seit vielen Jahren nehme das Engagement in Vereinen, kirchlichen und anderen Institutionen ab. Freizeit werde zunehmend individualisiert und vom Smartphone diktiert.
Beispiel Österreich: Kontakte zu Freunden und Familie schrumpfen
Nun sind unsere Kulturen nur bedingt miteinander vergleichbar. Aber auch in Ländern Europas kommen Wissenschaftler zu ähnlichen Ergebnissen. Den Österreichern etwa eilt nicht der Ruf mangelnder Geselligkeit voraus. 2005 gaben noch 39 Prozent der Befragten an, regelmäßig etwas mit Freunden zu unternehmen. 2018 (noch vor der Pandemie) waren es lediglich 27 Prozent.
Nun könnte man meinen, die Familie diente als Auffangbecken. Stattdessen sank die Zahl derer, die sich regelmäßig mit ihren Nächsten beschäftigten, von 65 auf 46 Prozent (Quelle: Der Standard).
Einladung zum Nachdenken
Der frühere Spitzenpolitiker Karl-Theodor zu Guttenberg hat sich inzwischen einen gelasseneren, aber nicht minder scharfen Blick auf die Dinge angewöhnt. Er lässt uns auf charmante Art an seinen Alltagserlebnissen und Gedanken teilhaben.
Manche Zeitgenossen scheuen sich nicht davor, mit wildfremden Menschen eine Gong-Therapie zu machen. Anderen erscheint es als Zumutung, sich in einem Verein einzubringen. Ja, man mischt sich unter Menschen, aber unter Vermeidung allzu straffer sozialer Verpflichtungen. Die trügerische Kraft der Unverbindlichkeit.
Vor dem Edeka wird es plötzlich laut. Die Jugendlichen machen sich an den Bierdosen zu schaffen. Fröhliches Geschnatter und Gejohle. Sie scheren sich nicht um akademische Turnübungen und soziologische Betrachtungen.
Einigermaßen versöhnt mache ich mich auf den Weg. Die beiden Sicherheitskräfte, die auf sie zukommen, sehen allerdings nicht so aus, als wollten sie Freundschaft schließen.