Das nd braucht dringend mehrere Tausend Digital-Abos zum Überleben. Mit der neuen App nd.Digital (Arbeitsname »Flamingo«) ist die technische Grundlage dafür geschaffen.

Das nd braucht dringend mehrere Tausend Digital-Abos zum Überleben. Mit der neuen App nd.Digital (Arbeitsname »Flamingo«) ist die technische Grundlage dafür geschaffen.

Foto: nd

Die Leser*innen und Abonnent*innen sollten es wissen: Ab dieser Woche erscheint das nd montags nicht mehr gedruckt, sondern nur noch als Digitalzeitung. Mitte April hat Chefredakteurin Ines Wallrodt darüber berichtet, dass das nd hierfür extra eine neue App entwickelt hat. Nur am Rande ihres Berichts taucht jedoch auf, dass die Software gewissermaßen als Nachricht aus der postkapitalistischen Zukunft zu uns kommt. Denn die App namens nd.Digital entstand als Kooperation zweier Betriebe, die sich als Genossenschaften in demokratischem Gemeineigentum befinden: die Schweizer Wochenzeitung WOZ und das nd. Und: Die Zusammenarbeit der beiden Medienprojekte wurde jenseits des Marktes organisiert. Die Schweizer Genoss*innen arbeiteten an der Entwicklung der nd-App mit, ohne dafür bezahlt oder entlohnt zu werden.

Cyril Müller arbeitet in der IT-Abteilung bei der WOZ in Zürich und war tragender Kopf bei der Entwicklung der App. Er betont, dass es keine reine Solidarität gewesen sei, die die ökonomisch relativ gut aufgestellte WOZ zur Kooperation mit dem sehr viel ärmeren nd bewegt habe. »Es war schon auch Eigeninteresse. Bei der WOZ arbeiten wir mit zwei Apps, die für die Betriebssysteme iOS und Android programmiert sind, das resultiert in Mehraufwand. Die App, die wir zusammen entwickelt haben, kann auf beiden Plattformen genutzt werden: sowohl auf IOS als auch auf Android.«

Da die WOZ im Augenblick aber ganz konkret die nd-App maßgeblich mit geschrieben hat, haben sich die beiden Genossenschaften auf den Tausch von Arbeitsstunden geeinigt. 200 Stunden programmiert Cyril Müller in Zürich für die Berliner Genossenschaft. Im Gegenzug hat sich die Software-Abteilung des nd dazu verpflichtet, 200 Arbeitsstunden für die WOZ zu liefern. Für das nd bedeutet das ein enormes Entgegenkommen, denn die Arbeitsstunden eines Schweizer Programmierers wären unter Marktbedingungen für uns völlig unbezahlbar.

Auch wenn es also kein reines Unterstützungsprojekt der WOZ war, spielt Solidarität also auch eine wichtige Rolle. Und auch technisch hat die Kooperation einen »konkret-utopischen« Aspekt. Die Genossenschaften haben sich darauf verständigt, dass die App keine Ware, sondern ein Gemeingut wird. Das bedeutet, der Quellcode des Programms wird frei zur Verfügung stehen und kann von allen Interessierten geteilt, kopiert und genutzt werden kann. Damit folgt die Zusammenarbeit zentralen Grundsätzen der Freie-Software-Bewegung. Cyril Müller erklärt: »Die nd.App ist nicht komplett frei lizensiert. Sie ist frei im Sinne von gratis, aber – noch – nicht quelloffen, weil einige vom nd verwendete Icons lizensiert sind. Aber grundsätzlich wird die App, anders als die Zeitung, kein Marktprodukt sein.«

nd.Digital ist also ein Mikro-Beispiel dafür, wie nicht-kapitalistisches Wirtschaften funktioniert. »Natürlich spielte für uns eine große Rolle, dass das nd kein normaler Betrieb ist«, unterstreicht Müller. Denn auch die 1981 gegründete linke Mediengenossenschaft WOZ hat den Anspruch, kollektive und demokratische Utopien in die Gegenwart zu holen. Bei der Züricher Wochenzeitung gelten beispielsweise recht strenge Gleichheitsansprüche. »Bei uns gibt es einen Einheitslohn für Festangestellte«, erläutert Müller. »Wenn in der WOZ jemand einen stressigeren Job als andere hat, kriegt die Person deshalb nicht mehr Geld.«

Für Müller bedeutet das Modell Einbußen, denn mit dem Einheitslohn verdient er spürbar schlechter, als das für einen Schweizer Programmierer üblich ist. Doch dass materielle Vorteile den wichtigsten Handlungsanreiz für Menschen darstellen, ist eben auch so eine neoliberale Unterstellung, die mit der Wirklichkeit weniger zu tun hat als gemeinhin angenommen. Er sei gern von einem besser bezahlten Job in das linke Medienprojekt gewechselt, berichtet Müller. Die Gleichberechtigung unter den Genossenschaftsmitgliedern, die flexiblere Zeitgestaltung und die Atmosphäre unter den Kolleg*innen wiegen das geringere Gehalt auf. Außerdem verweist Müller auf den inhaltlichen Aspekt. Mit den Kolleg*innen in der IT-Abteilung der WOZ teile er die Einstellungen zu Open-Source-Software und digitalen Grundrechten.

Dass Genossenschaften allein noch kein Antikapitalismus sind, wird auch im Gespräch mit dem WOZ-Kooperativisten klar. Auf die Frage, wie es um die Genossenschaftsbewegung in der Schweiz stehe, erwähnt Cyril Müller die wichtigste Supermarktkette im Land. »Migros ist eine Genossenschaft, aber der Kooperativen-Gedanke spielt da eigentlich keine Rolle mehr.« Die Einzelhandelskette lässt ihre Gewinne zwar teilweise in eine gemeinnützige Stiftung fließen und ist insofern denn auch kein klassisch-kapitalistischer Konzern. Aber ansonsten ist es eben doch ein ganz normaler gewinnorientierter Supermarkt mit Hierarchien und Niedriglohn-Jobs.

Sich demokratisch und gleichberechtigt als Genossenschaft zu organisieren ist also keine Allzweckwaffe im Kampf um die Zukunft. Aber es ist ein Ansatz, um linke Ziele – Gleichheit, Solidarität, Demokratie – konkreter werden zu lassen. Die Entwicklung von nd.Digital ist insofern ein kleines, praktisches Beispiel dafür, dass auch im entgrenzten Kapitalismus manchmal eine andere Zukunft aufblitzen kann. Wer das nd ab Montag mit der App liest, darf jeden Tag kurz daran denken, dass das digitale Werkzeug auch Produkt einer unzerstörbaren Utopie ist: Wir wollen gleicher leben, arbeiten und lesen – über alle Staatsgrenzen hinweg.

Merci, WOZ, es lebe die Genossenschafts-Internationale!

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