Berlin. Frau Esken, Sie sind für die Viertagewoche bei Lohnausgleich. Passt das in die Zeit? Die Babyboomer gehen in Rente, es mangelt dramatisch an Fachkräften.

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Man muss sich den Arbeitsmarkt insgesamt anschauen: Auf der einen Seite haben wir so viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen wie nie zuvor und dazu 1,3 Milliarden Überstunden pro Jahr, die Hälfte übrigens unbezahlt. Auf der anderen Seite gibt es 2,8 Millionen junge Menschen ohne Ausbildung – und dadurch oft auch ohne Beschäftigung – sowie Millionen Menschen, vor allem Frauen, die gerne mehr arbeiten würden, wenn es bessere Betreuungsmöglichkeiten gäbe. Das ist ein riesiges Potenzial an Fachkräften. Für kürzere Arbeitszeiten spricht übrigens, dass eine bessere Verteilung auf mehr Schultern und durchschnittlich niedrigerer Arbeitszeit das Arbeitsvolumen insgesamt sogar erhöhen kann.

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Auch schon Berufsanfänger wollen nicht so viel arbeiten. Was ist so schlimm geworden, dass 7,5 Stunden am Tag, fünf Tage die Woche, zu viel erscheinen?

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Die Gesellschaft entwickelt sich weiter. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Schichtarbeit, zu viele Überstunden, zu viele Springerdienste krank machen können. Wenn die Leute arbeitsunfähig werden, ist niemandem gedient. Dazu kommt, dass die volle Fünftagewoche ein Modell war, in der überwiegend der Mann gearbeitet und die Frau sich um die Familie gekümmert hat. Das ist heute glücklicherweise anders. Es ist doch nachvollziehbar, dass man neben dem Beruf auch Zeit haben möchte, um seine Kinder aufwachsen zu sehen oder sich sozial oder politisch zu engagieren. Wer einen flexiblen Bürojob hat, kann inzwischen einen Ausgleich durch mobiles Arbeiten bekommen. Das ist in der Pflege, Industrieproduktion, in Kitas nicht möglich. Da muss ein anderer Ausgleich her.

Sollte der Arbeitskampf der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, die für eine 35-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich unerbittlich gestreikt hat, Schule machen?

Man braucht nicht unbedingt einen Arbeitskampf und auch kein Gesetz. Das kann sich von allein in modernen Unternehmenskulturen durchsetzen. Viele Betriebe machen bereits gute Erfahrungen damit. Ihre Leute sind motivierter, seltener krank, es gibt weniger Fluktuation. Ist ja klar: Man kann auch unter der Woche Dinge erledigen, zum Arzt gehen, mit den Kindern neue Schuhe kaufen. Das führt zu einer wesentlich höheren Lebensqualität. Wir müssen es hinkriegen, dass Menschen ihr Erwerbs- und Privatleben vereinbaren können, ohne kaputtzugehen.

Sind Sie für teilweisen oder vollen Lohnausgleich für die Viertagewoche?

Die Unternehmen, die ich kenne, haben das mit vollem Lohnausgleich gemacht. Und es geht. Letztlich ist das eine Frage in der Verantwortung der Tarifautonomie.

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Und die Kitas, Schulen, Friseure machen dann einfach einen Tag in der Woche zu?

Das ist nicht nötig, wenn wir mehr Frauen und mehr junge Menschen in den Arbeitsmarkt bringen können.

Wie genau?

Es ist keine Überraschung, dass die Boomer-Generation langsam in Rente geht, und die nachfolgende Generation gerade noch halb so groß ist. Das ist eine Riesenaufgabe, die wir noch nicht verstanden haben. Die wird aber nicht dadurch gelöst, dass alle eine Stunde mehr arbeiten. In Unternehmensetagen, Verwaltungen, Behörden gibt es durchaus Effizienzpotential: überflüssige Besprechungen abschaffen zum Beispiel. Und wir müssen die Ausbildung verbessern und die Kinderbetreuung. Fakt ist: Personalmangel herrscht überall. Arbeitsmarktexperten zufolge brauchen wir jedes Jahr 400.000 zusätzliche Fachkräfte aus dem Ausland, um unseren Wohlstand und unsere sozialen Sicherungssysteme aufrechtzuerhalten. Migration sichert unseren Wohlstand, sie sollte nicht als Problem angesehen werden, sondern als Lösung.

Trotz Leistungswillen schaffen nicht alle den Aufstieg.

Wäre es etwa eine gute Idee, ausländische Fachkräfte mit zeitlich befristeten Steuernachlässen zu locken, wie die FDP es fordert?

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Es mangelt nicht an Anreizen. Das Problem sind Bürokratie und schlechte Stimmung. Unternehmen berichten selten von Anwerbeversuchen, die an Steuerfragen scheitern. Meistens ist die mangelnde Anerkennung von Abschlüssen oder die Arbeitserlaubnis das Problem. Die Wartezeiten bei Behörden, auch den Deutschen Botschaften, sind zu lang. Das schreckt ab. Und natürlich schrecken auch zunehmender Rassismus und Ausländerfeindlichkeit ab.

Wie kommt es eigentlich, dass 2,8 Millionen junge Leute in Deutschland keine Ausbildung haben?

Das Problem ist Armut. Menschen, die im Niedriglohnsektor beschäftigt sind oder Vollzeit arbeiten und nebenher einen Minijob machen müssen, damit es irgendwie reicht, können ihre Kinder nicht so unterstützen, wie das in unserem Bildungssystem notwendig ist. Wir haben ein Halbtagsbildungssystem, das darauf baut, dass am Nachmittag jemand mit den Kindern Hausaufgaben macht. Und Nachhilfe kann nicht jeder bezahlen. Das Versprechen der Chancengleichheit unabhängig von der Herkunft ist verloren gegangen. Trotz Leistungswillen schaffen nicht alle den Aufstieg. Die Schere der Einkommensunterschiede geht immer weiter auseinander. Wir können uns diesen Verlust an Potenzialen nicht leisten.

Nele Bauer befindet sich im ersten Lehrjahr bei der Schreinerei Möller in der Hohenhagener Str. 26-28.

Angehende Schreinerin: „Ich wurde oft abgelehnt, weil ich eine Frau bin“

Ist Geschlechterdiskriminierung im Handwerk auch 2024 noch ein Thema? Eine Auszubildende aus Nordrhein-Westfalen (Remscheid) erzählt von ihren Erfahrungen.

Wie lässt sich gegensteuern?

Dazu müssen wir die Erwerbsarmut der Eltern bekämpfen. Das bedeutet: Die Leute müssen ordentliche Löhne haben.

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Der Mindestlohn liegt jetzt bei 12,41 Euro pro Stunde, ab Januar 2025 steigt er auf 12,82 Euro. Reicht das?

Der Mindestlohn muss deutlicher steigen. Die Erhöhung in diesem und im nächsten Jahr ist viel zu niedrig angesichts der Belastungen der Beschäftigten. Er muss auf jeden Fall so hoch sein, dass Alleinstehende armutsfest davon leben können, wenn sie einen Vollzeitjob auf Mindestlohnniveau haben. Auch die Tariflöhne müssen steigen. Und die Tarifbindung der Unternehmen. Die Koalition sollte das entsprechende Gesetz dazu endlich verabschieden.

In der Mindestlohnkommission haben bei der Festlegung der Erhöhung die Arbeitgeber die Arbeitnehmervertreter überstimmt. Plädieren Sie dafür, dass die Politik nochmal eingreift und einen Mindestlohn festlegt?

Das sollte man nicht zur ständigen Übung werden lassen. Wir sollten die gesetzlichen Vorgaben für die Mindestlohnkommission so verändern, dass dort Entscheidungen nur im Konsens getroffen werden können. So ist das ja auch bei Tarifverhandlungen üblich. Man muss sich einigen, die eine Seite kann die andere nicht überstimmen. Das wäre auch beim Mindestlohn sinnvoll.

Die SPD-Bundesvorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil im Plenum in Berlin.

Die SPD-Bundesvorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil im Plenum in Berlin.

Kommt eigentlich die Kindergrundsicherung noch? Da scheint ja nichts voranzugehen.

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Es ist eine große Sozialreform und daher reichlich komplex. Kein Kind soll schlechter gestellt werden und für die Familien soll gleichzeitig alles einfacher werden. Für beide Maximen ist der jetzige Gesetzentwurf noch nicht geeignet. Das reicht noch nicht aus, daran muss noch gearbeitet werden. Wir sind dazu mit der Ministerin in einem guten Austausch.

Braucht es dafür wirklich 5000 neue Stellen? Klingt nicht nach Bürokratieabbau.

Die 5000 Stellen stammen nicht von Lisa Paus. Die Familienkasse, die für die Kindergrundsicherung zuständig sein soll, hat sie als Bedarf angemeldet. Es bringt uns nicht weiter, sich diese Zahl jeden Tag gegenseitig um die Ohren zu hauen. Trotzdem müssen wir ein Auge darauf werfen, ob vielleicht doch gerade eine überbordende Bürokratie eingeplant wird. Ich bin sicher, dass Digitalisierung da hilfreich sein kann.

Die FDP fordert eine Nullrunde für Bürgergeldempfänger im kommenden Jahr. Gehen Sie mit?

Es geht nicht darum, irgendwas zu fordern. Die Fortschreibung der Regelbedarfe erfolgt auf validen und damit verlässlichen sowie überprüfbaren Daten. Seit 2023 wird die aktuelle Preisentwicklung stärker berücksichtigt. Damit wird auch den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen.

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Von zwei verlorenen Jahren zu sprechen – das ist schon eine sehr beschränkte Wahrnehmung.

Wie viele Menschen sind eigentlich durch das neue Bürgergeld in Arbeit gekommen?

Arbeitsmarkt und Grundsicherung sind ja nicht starr, sondern dynamisch. 800.000 Menschen sind erwerbstätig, verdienen aber zu wenig und beziehen daher Bürgergeld. Letztes Jahr sind 437.000 Arbeitslose im SGB II in den ersten Arbeitsmarkt gekommen. Der Job-Turbo für Geflüchtete läuft, trotz konjunkturell schwierigem Umfeld, gut an. Rund 160.000 Ukrainerinnen und Ukrainer sind bereits in Arbeit gebracht worden. Wichtig ist auch, wir haben neue Instrumente für die Integration in den allgemeinen und sozialen Arbeitsmarkt eingeführt. Für Menschen, die schon sehr lange und verfestigt in der Grundsicherung sind. Das ist erfolgreich. Derzeit werden hier über 40.000 Menschen gefördert.

Demokratie-Radar

Wie steht es um die Demokratie in Deutschland? Unser RND-Team geht dem nach – jeden Dienstag in diesem Newsletter.

Industrieverbandspräsident Siegfried Russwurm sagt, mit Olaf Scholz als Kanzler habe die Wirtschaft zwei Jahre verloren. Wie zerrüttet ist das Verhältnis zwischen Kanzler, SPD und Wirtschaft?

Für die SPD gehören eine leistungsstarke Wirtschaft und der daraus entstehende Sicherheits- und Wohlstandsgewinn für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusammen. Herr Russwurm hat offenbar vergessen, was das für zwei Jahre gewesen sind. Wir haben das Land durch schwerwiegende Krisen gesteuert, die wir nicht zu verantworten haben: Russlands Krieg gegen die Ukraine mit deutschen Milliardenhilfen für Kiew, die Aufnahme von über einer Million Ukrainerinnen und Ukrainern, die Deckelung der Energiepreise. Der befürchtete Wutwinter blieb aus und die Wohnungen blieben warm. Wir haben dennoch viele Punkte aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt. Trotzdem von zwei verlorenen Jahren zu sprechen – das ist schon eine sehr beschränkte Wahrnehmung.

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Attestieren Sie das auch Bürgerinnen und Bürgern, die der SPD in Umfragen so schlechte Werte bescheren?

Wir können keine Zustimmung für Ereignisse erwarten, die durch vorausschauende Politik eben nicht eingetreten sind, wie beispielsweise der Wutwinter. Es gilt auch hier das Präventionsparadox: Das Schlimmste wurde durch beherztes Eingreifen und viel Kraft verhindert. Und dann heißt es: War doch gar nicht so schlimm. Im thüringischen Landkreis Sonneberg haben 44 Prozent der Beschäftigten von der Erhöhung des Mindestlohns profitiert…

…und zum Dank einen AfD-Mann zum Landrat gewählt.

Genau, eine Partei, die dem Mindestlohn nicht zugestimmt hat. Die Ampel hat große sozialpolitische Erfolge erzielt trotz einer geopolitisch extrem angespannten Situation. Und jetzt sinken die Energiepreise und die Inflation geht zurück.

Bundesweit erster AfD-Landrat in Sonneberg vereidigt

Deutschlands erster AfD-Landrat, Robert Sesselmann, ist im thüringischen Sonneberg vereidigt worden.

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FDP-Chef Christian Lindner sagt, er gebe keinen Blankoscheck für die Koalition. Wie deuten sie das?

Wir haben diese Koalition mit viel Mut geschlossen – und auch aus staatspolitischer Verantwortung. Die Idee war, dass sehr unterschiedliche Partner das Land genau dadurch voranbringen können, dass sie ihre unterschiedlichen Ideen zusammenfügen. Angesichts der gegenwärtigen internationalen Krisen widerspräche es staatspolitischer Verantwortung, die deutsche Position zu schwächen, indem man die Koalition infrage stellt. Wir haben noch einiges gemeinsam vor. Und man darf bei allen Differenzen nicht vergessen: Vieles wird ohne jeden Streit – beschlossen und umgesetzt.

Müsste der Kanzler ein bisschen mehr auf den Tisch hauen, damit die Koalition zusammenbleibt?

Der Kanzler ist ein Mann, der wenig dazu neigt, auf den Tisch zu hauen, und ich bin ganz froh darüber. In vergangenen Zeiten mag das ein Weg gewesen sein. Aber um heute ein Bündnis verschiedener Partner zusammenzuhalten, muss man das Gegenüber in seiner Unterschiedlichkeit verstehen und einbeziehen und Interessen ausgleichen können.



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