Sie fehlen an allen Ecken und Enden: Fachkräfte in der Medizin, in der Pflege, im Bau- und Ingenieurwesen, in der IT-Branche, in technischen und naturwissenschaftlichen Berufen, eigentlich überall.
Experten wie der Wirtschaftsforscher Marcel Fratzscher werden nicht müde zu betonen, Deutschland brauche „eine massive Zuwanderung“, mindestens „knapp eine Million Menschen pro Jahr“. Wichtig sei dabei die Aufnahme „vor allem von hoch qualifizierten“ Arbeitskräften.
Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will den Arbeitsmarkt mit Top-Leuten fluten: „Wir wollen, dass Fachkräfte schnell nach Deutschland kommen und durchstarten können.“ Als Fachkräfte gelten Menschen mit einem Hochschulabschluss oder einer qualifizierten mindestens zweijährigen Berufsausbildung.
Viele qualifizierte Arbeitskräfte durch mehr Zuwanderung?
Was sich Ökonomen und Vertreter der Ampelregierung wünschen, klingt plausibel. Und schön.
Entscheidend aber ist: Wie sieht die Realität aus? Wird Deutschland von zugewanderten Ärzten, Ingenieuren und IT-Spezialisten überrannt? Immerhin stellten fast 352.000 Menschen vergangenes Jahr bei uns einen Asylantrag, im Januar 2024 waren es schon wieder mehr als 28.000.
Unter ihnen und unter den schon früher Zugewanderten müsste es doch jede Menge Leute geben, die den deutschen Arbeitsmarkt spürbar bereichern und das Land voranbringen. Sollte man zumindest meinen.
Eine aktuelle Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) liefert jedoch bedenkliche Zahlen.
Neue Bilanz der Bundesagentur für Arbeit ernüchternd
Die Bilanz beleuchtet die „Arbeitsmarktsituation“ von Staatsangehörigen aus den acht wichtigsten Asylherkunftsländern. Das sind Syrien, Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan und Somalia. Im Januar 2024 lebten aus diesen Ländern insgesamt 1.546.260 Menschen im erwerbsfähigen Alter (15 bis unter 65 Jahre) in Deutschland.
FOCUS online fasst die sieben wichtigsten Fragen und Erkenntnisse hier zusammen:
1) Wie viele Zugewanderte gehen einer regulären Arbeit nach?
- 660.200 Zuwanderer aus den acht wichtigsten Asylherkunftsländern gehen in Deutschland einer regulären Beschäftigung nach.
- 566.400 dieser Beschäftigungsverhältnisse (85,8 Prozent) sind sozialversicherungspflichtig.
- 93.800 Jobs fallen unter geringfügige Beschäftigung.
- Die Beschäftigungsquote der Männer liegt bei 53,6 Prozent, die der Frauen bei 23,3 Prozent.
2) In welchen Branchen arbeiten die meisten Zugewanderten?
In diesen fünf Wirtschaftszweigen sind die meisten zugewanderten Männer sozialversicherungspflichtig beschäftigt:
- Handel, Autohandel und -reparatur: 64.520 (14 Prozent)
- Verarbeitendes Gewerbe: 64.189 (14 Prozent)
- Verkehr und Lagerarbeiten: 56.874 (13 Prozent)
- Zeitarbeit/Arbeitnehmerüberlassung: 48.873 (11 Prozent)
- Sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen: 46.920 (11 Prozent)
In diesen fünf Wirtschaftszweigen sind die meisten zugewanderten Frauen sozialversicherungspflichtig beschäftigt:
- Gesundheitswesen: 17.554 (17 Prozent)
- Handel, Autohandel und -reparatur: 15.017 (15 Prozent)
- Heime und Soziales: 14.363 (14 Prozent)
- Gastgewerbe: 9460 (9 Prozent)
- Sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen: 8986 (9 Prozent)
3) Wie viele sind arbeitslos und bekommen Bürgergeld?
Bei den Jobcentern und Arbeitsagenturen im gesamten Bundesgebiet sind derzeit 701.768 Menschen aus den acht wichtigsten Asylherkunftsländern registriert. Die Kernaussagen der Statistik:
- 287.989 von ihnen sind arbeitslos (41,0 Prozent).
- 51.297 besuchen Integrationskurse (7,3 Prozent).
- 14.627 besuchen derzeit Deutschkurse (2,1 Prozent).
- 35.659 befinden sich in Jobcenter-Fördermaßnahmen (5,1 Prozent).
- 109.569 machen eine Schul- oder Ausbildung (15,6 Prozent).
- 76.712 gehen einer ungeförderten Erwerbstätigkeit nach (10,9 Prozent).
- 58.248 erziehen ihre Kinder oder pflegen Angehörige (8,3 Prozent).
Von den 287.989 arbeitslosen Zuwanderern erhalten die allermeisten (248.836) Bürgergeld. Da auch erwerbsfähige Zuwanderer, die einen Integrationskurs belegen oder ihre Kinder betreuen, Anspruch auf diese Leistung haben, steigt die Zahl der Bürgergeld-Empfänger auf 604.151.
Zählt man die 315.550 nicht erwerbsfähigen Leistungsberechtigten hinzu, etwa Kinder und Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen, erhalten insgesamt 919.701 Zuwanderer Bürgergeld. Die Angabe gilt für November 2023, neuere Zahlen liegen noch nicht vor.
4) Welche Bildung haben Zuwanderer, die arbeitslos sind?
Laut dem „Migrationsmonitor“ der BA hatten vergangenen Oktober (neuere Zahlen liegen noch nicht vor)
- 88 Prozent der arbeitslosen Menschen aus den wichtigsten Asylherkunftsländern keinen Berufsabschluss.
- Gerade mal 4,1 Prozent eine schulische oder betriebliche Ausbildung.
- Lediglich 6,3 Prozent einen akademischen Abschluss.
5) Welches Job-Niveau streben die Zugewanderten an?
- 69 Prozent (341.183) der arbeitssuchenden Zuwanderer suchen eine Stelle auf Helferniveau.
- 15 Prozent (74.861) suchen eine Stelle als Fachkraft.
- 5 Prozent (24.155) suchen eine Stelle als Spezialist oder Experte.
- 11 Prozent (55.876) machten keine Angaben.
6) Welche Berufe wollen die Zugewanderten machen?
Bei den Männern suchen
- 36.152 einen Job in Logistik- und Transportfirmen, bei der Post oder Kurierdiensten (21 Prozent).
- 12.024 einen Job als Fahrer von Bus, Bahn, Taxi, Lkw, Kurierfahrzeug (7 Prozent).
- 10.818 einen Job in der Gastronomie/Küche (6 Prozent).
- 9796 einen Job im Reinigungsgewerbe (6 Prozent).
- 16.638 machten keine Angaben (10 Prozent).
Bei den Frauen suchen
- 33.615 einen Job im Reinigungsgewerbe (30 Prozent).
- 16.522 einen Job in der Gastronomie/Küche (15 Prozent).
- 8201 einen Job in Hauswirtschaft und Verbraucherberatung (7 Prozent).
- 7984 einen Job im Verkauf (7 Prozent).
- 13.713 machten keine Angaben (12 Prozent).
7) Wie viele Zuwanderer schaffen Sprung aus Arbeitslosigkeit?
- 11.946 Menschen aus den wichtigsten Asylherkunftsländern schafften im Februar 2024 den Sprung aus der Arbeitslosigkeit in Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt und in die Selbständigkeit.
- Das waren 6,9 Prozent mehr als im Vorjahresmonat (11.170), aber etwas weniger als im Februar 2022 (12.203)
Nur 20 Prozent streben eine Tätigkeit als Fachkraft an
Mit Blick auf die in Deutschland dringend benötigten Fachkräfte wirkt das Zahlenwerk der Bundesagentur für Arbeit (BA) zunächst ernüchternd.
Denn momentan leben knapp 40 Prozent der 1,546 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter aus den acht wichtigsten Asylherkunftsländern von Bürgergeld. Oder sie arbeiten in Branchen, für die vergleichsweise geringe Qualifikationen benötigt werden. Beispielsweise im Logistik- und Transportgewerbe, im Handel oder in anderen Dienstleistungsbereichen.
Dieser Trend scheint sich zu verfestigen: Laut BA wollen 69 Prozent der arbeitssuchenden Zuwanderer eine Stelle „auf Helferniveau“. Nur 20 Prozent streben eine „qualifizierte Tätigkeit“ als Fachkraft/Spezialist an.
Fakt ist: Auch in weniger anspruchsvollen Berufen herrscht in Deutschland zum Teil akuter Arbeitskräftemangel, helfende Hände werden also dringend gebraucht.
BA in Nürnberg: Integration hat sich sehr gut entwickelt
Bei der BA in Nürnberg geht man zudem davon aus, dass viele anerkannte Asylbewerber früher oder später erfolgreich in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden können.
BA-Sprecherin Vanessa Thalhammer zu FOCUS online: „Generell beobachten wir, dass sich die Integration von geflüchteten Menschen aus der Flüchtlingswelle 2015/2016 sehr gut entwickelt.“ Dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge seien mittlerweile „rund zwei Drittel dieser Personengruppe in ein Beschäftigungsverhältnis integriert“.
„Unser Bestreben ist, dass Zugewanderte zunächst grundlegende Deutschkenntnisse erwerben und dann zügig eine Arbeit aufnehmen. Im Job verbessern sie ihre Sprachkenntnisse, durchlaufen das Anerkennungsverfahren und können sich in der Beschäftigung weiterbilden.“ Dieser Weg führe „zu einer schnellen und vor allem nachhaltigen Integration“, so Thalhammer.
Obwohl viele Fortschritte erzielt worden seien, gebe es Probleme. So fänden Arbeitslose aufgrund der schwächelnden Konjunktur derzeit schwerer einen Job – trotz Beschäftigungsrekords. „Das betrifft besonders Geflüchtete mit geringen Sprachkenntnissen.“
Aus diesem Grund müsse man das Angebot an Sprachkursen ausweiten, erklärt Thalhammer. Wichtig sei auch, sich besser um die Betreuung von Kindern aus Zuwanderer-Familien zu kümmern, damit mehr Frauen an Deutschkursen teilnehmen können und so bessere Chancen auf einen Job haben.
Arbeitsmarktforscher: Erst Hürden, dann Fortschritte
Das IAB kommt bei seinen Forschungen zu ähnlichen Erkenntnissen.
In einer Analyse zur „Entwicklung der Arbeitsmarktintegration seit Ankunft in Deutschland“ heißt es, neu ankommende Migranten stünden zunächst vor großen Schwierigkeiten. Dazu zählten: marginale Sprachkenntnisse, fehlende Netzwerke, keine Informationen über den deutschen Arbeitsmarkt. Diese Hürden müssten „erst schrittweise überwunden werden“.
Mit zunehmender Aufenthaltsdauer würden die Erwerbstätigenquoten der Geflüchteten „stark ansteigen“, so die Forscher. „So belaufen sich die Erwerbstätigenquoten im ersten Jahr nach dem Zuzug auf 7 Prozent, steigen sechs Jahre nach dem Zuzug auf 54 Prozent und auf 62 Prozent sieben Jahre nach dem Zuzug.“
Auch zum Thema Fachkräfte äußern sich die Wissenschaftler hoffnungsvoll. „Rund zwei Drittel der Geflüchteten waren vor ihrer Ankunft in Deutschland erwerbstätig und übten zu 87 Prozent qualifizierte Tätigkeiten als Fachkraft, Spezialist oder Experte aus.“
Appell: Unterstützung für Zuwanderer weiter ausbauen
Weiter heißt es in der Analyse: „Während im ersten Jahr nach Ankunft in Deutschland etwas über die Hälfte der erwerbstätigen Geflüchteten eine qualifizierte Tätigkeit ausübt, steigt der Anteil sechs Jahre nach dem Zuzug auf 70 Prozent.“
Die Forscher raten dringend dazu, Integrations- und Qualifizierungsprogramme für Zuwanderer weiter auszubauen. Auch beim Übergang in den regulären Arbeitsmarkt sollten sie „angemessen und zielgerichtet“ unterstützt werden. Das gilt auch für den „Erwerb von Ausbildungs- und Bildungsabschlüssen“.
Mit Blick auf den Fachkräftemangel richten die Nürnberger Forscher einen Appell an die Politik. Es sollten „alle Anstrengungen unternommen werden, um die Berufs- und Hochschulabschlüsse von Geflüchteten sowie deren durch Berufserfahrung erworbene Qualifikationen anzuerkennen und zu zertifizieren.“ Nur so könne der „Zugang zu qualifizierten Beschäftigungsmöglichkeiten“ erweitert werden.