Hartmut Sander war als Drucker und Verleger einer der wichtigsten Protagonisten der frühen Popliteratur. Dann stürzte er ab. Ein Nachruf.

Umschlag des Buchs

Umschlag des Buchs „Subkultur Berlin“ vbon Hartmut Sander, Herrausgeber Ulrich Christians Foto: März Verlag

„Ich erinnere mich an nichts – ist vielleicht auch besser, wenn man sich nicht erinnert.“ Das ist die einzige – programmatische – Aussage, die ich von Hartmut Sander festgehalten habe, nach einem Telefonat. Persönlich getroffen habe ich ihn nie, ein Brief blieb 2004, als ich für ein Buchprojekt erstmals zu ihm Kontakt aufnahm, unbeantwortet.

Als ich knapp 20 Jahre später noch mal nach seinem Schicksal forschte, schrieb mir seine Schwester, die Filmemacherin Helke Sander, im Dezember 2023: „Auch wenn mein Bruder nicht mehr große Gefühlsregungen zeigt, so hat er sich doch über Ihren Brief gefreut. Auf meine Frage, ob er Sie sehen will, hat er nicht eindeutig geantwortet. Allerdings ist eine Unterhaltung kaum möglich, weil er auf dem einen Ohr nichts hört und dem anderen kaum etwas. Es reicht nicht, laut zu sprechen, man muss brüllen.“ Und: „Er hat sich gewissermaßen ausgeklinkt.“

Brüllen, vergessen, sich ausklinken: Das sind vielleicht Motive, die zu einer notwendigerweise unvollständigen Würdigung von Hartmut Sander passen, der 1942 geboren wurde, am 30. März 2024 in einem Berliner Pflegeheim gestorben ist und dessen Asche nun auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg ruht.

Bartleby der deutschen Literatur

Hartmut Sander ist ein Art Bartleby der deutschen Literatur: einer, der im Aufbruchsjahrzehnt der 1960er mit den absoluten Größen – Peter Handke, Rolf Dieter Brinkmann – erscheint, der das, was irgendwann Popliteratur heißt, als Verleger US-amerikanischer Undergound-Gedichte miterfunden hat – und der dann im nicht nur übertragenen Sinn eingestampft wird, der noch einmal unüberhörbar brüllt und sich schließlich für immer aus der Öffentlichkeit verabschiedet.

Nach der Flucht vor einem autoritären Vater („Hartmut sollte ein guter, männlicher, deutscher Junge werden und kein verträumter, Gedichte schreibender Herumtreiber“, Helke Sander) macht Sander eine Buchhändlerlehre, geht nach Köln und arbeitet in der Buchhandlung von Johann Caspar Witsch, dem Mitbegründer des Verlags Kiepenheuer & Witsch.

Kollegen dort sind Rolf Dieter Brinkmann und Klaus Willbrand. Zusammen gründen sie einen nach Willbrand benannten Verlag, Sander war noch nicht volljährig. Hier erscheint Brinkmanns erstes Buch überhaupt, die Gedichtbroschüre „Ihr nennt es Sprache“. Im „Brinkmann-Handbuch“ heißt es dazu: „Sie sollte die einzige Publikation des Verlags, aber nicht Brinkmanns einziger Versuch einer Verlagsgründung mit Sander bleiben.“

Und das, obwohl schon diese erste Publikation unter keinem guten Stern stand: Im „Handbuch“ ist nachzulesen, wie Brinkmann beim Durchblättern der als Honorar vereinbarten Freiexemplare auf vier Druckfehler stieß und sofort die Auslieferung der gesamten Auflage verbot, was Willbrand und Sander 1.200 D-Mark kostete, „viel Geld“. Die knapp 500 Stück von „Ihr nennt es Sprache“ kamen dann erst nach Brinkmanns Tod auf den Markt. Signiert findet sich das 29-seitige Büchlein heute im antiquarischen Buchhandel für 300 Euro. Diese Entwicklung vom günstigen Büchlein zum Sammlerobjekt ist typisch für Sanders Schaffen als Verleger und Drucker: Für das 16-seitige Pamphlet „Die Literatur ist romantisch“ von Peter Handke ist man heute als „Sonderangebot“ ab 250 Euro mit dabei, der Preis geht hoch bis 550 Euro.

Streit mit Brinkmann und Handke

Radikaler als Brinkmann hatte Handke sein Essay, das 1967 in der von Sander und Martin Dürschlag betriebenen Oberbaumpresse erschien, einstampfen lassen. Ein paar Restexemplare sind der Vernichtung aber offensichtlich entgangen. In den Handke-Biografien, die ich für diesen Artikel durchgesehen habe, kommt der Name Hartmut Sander nicht vor, obwohl es sehr interessante Briefstellen von Handke an Sander gibt (zum Beispiel: „vielleicht ist die zeit der literatur überhaupt vorbei“, Brief von Handke an Sander vom 8. November 1968).

Das Zusammenleben in einer Kommune beendete Sander mit dem Satz: „Ich bin nicht euer Drucktrottel“

Nach Westberlin war Sander 1964 gezogen, um der Bundeswehr zu entgehen. Nach Angaben des anarchistischen Verlegers Bernd Kramer, der wie Sander aus Remscheid stammte und es ebenfalls anderen überlassen wollte, „das Vaterland zu verteidigen“, zogen die beiden zusammen mit Barbara Sander und Karin Kramer nach Berlin-Britz, wo sie in einer Wohn- und Arbeitsgemeinschaft eine Offsetdruckerei aufbauten.

Kramer: „Hartmut Sanders sehr ausgeprägter individueller Arbeitsstil erschwerte nach und nach die Zusammenarbeit und das Zusammenleben. Während wir in der Druckerei arbeiteten, saß Hartmut auf dem Vordach der Druckerei und las Marx und Heidegger.“ Das führte zum ersten in eine Reihe von „unvermeidlichen“ Krächen zwischen den beiden. Das weitere Zusammenleben in dieser sogenannten Linkeck-Kommune beendete Sander mit dem nur zu verständlichen Satz: „ich bin nicht euer Drucktrottel“, nahm sein Wissen und das Pro­duk­tions­mittel Rotaprint-Druckmaschine mit und zog aus.

Auch Brinkmann als anfänglicher Teilhaber und Autor der Oberbaumpresse war sauer auf Sander. Ein 1966 in 280 Exemplaren erschienenes Bändchen „&-Gedichte“ ging später bei Auktionen für nicht weniger als 400 Euro an die Kundschaft. Zurzeit des Erscheinens schimpfte Brinkmann brieflich über „totale Geschmacklosigkeit“ der Gestaltung und nahm sich wie immer auch sonst nicht zurück: „Deine lächerlichen hochfliegenden Absichten, etwas gegen den Strich zu machen, sind die in meinem Band realisiert? Diese Verlogenheit ist enorm!“ Was Brinkmann so in Rage brachte, kann ich leider nicht beurteilen.

„Gegen den Strich“ ist aber jedenfalls ein weiteres dieser Attribute, die Sander anhängen. Und doch sollte er sein Glanzstück noch abliefern: die 1969 im legendären März-Verlag von Jörg Schröder erschienene „glanzfolierte“, querformatige Dokumentation „Subkultur Berlin“ knapp 200 Seiten in Wort, Bild und Ton (mit Schallplatte!) wildestes Durcheinander, und damit die vielleicht authentischste Darstellung dessen, was „68“ in Westberlin jedenfalls auch war – dadaistischer Radikalspaß am absoluten Chaos bis hin zum Totalabsturz. Schon 1966 hatte Sander formuliert, es sei besser, eine Beatband zu gründen, als ein weiteres linkes Politgrüppchen. Die Bibliothek Ihres Vertrauens führt bestimmt ein Exemplar, sonst sind Sie hier antiquarisch schon ab ca. 20 Euro mit dabei (ohne Schallplatte!).

Was dann passierte, hat Helke Sander in ihrer „Mein kleiner Bruder“ betitelten Grabrede so geschildert: „Hartmut hatte auf jeden Fall in dieser Zeit viel Witz und Schaffensdrang und Einfälle und war eine Zeitlang auch glücklich mit seiner Frau Barbara, bevor er den Drogen erlag und von einem LSD-Trip nicht mehr runterkam.“

Was das konkret bedeutete, hielt Rolf Dieter Brinkmann fest: Sander „pennte in Kommunen / verwahrloste / wurde wütend, verlor vor Wut den Verstand und nahm ein Brech­eisen / zertrümmerte das Kreuz der Gedächtniskirche in Berlin / wurde in Heilanstalt gebracht / Beruhigungsspritzen / willenlos / bricht aus / geht freiwillig zurück / bricht wieder aus / lebt im Niemandsland / schreit jetzt neu in Heilanst.“

Und dort, im „Niemandsland“, in der „Heilanst.“, in der Pflege, betreut von seiner Schwester Helke, hat Hartmut Sander dann Jahrzehnte verbracht. Die deutsche Literatur und ihr Betrieb machten währenddessen einfach weiter. Und daran ist nichts Verkehrtes; aber auch einen Menschen, der dieser Literatur wesentliche Impulse gegeben hat, zu würdigen, scheint mir das Richtige zu sein – wenn ich es schon versäumt habe, ihn kennenzulernen.



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