Seit mehr als drei Wochen wird der sechsjährige Arian aus Bremervörde vermisst. Über 21 Tage, in denen die Polizei die Suche aufnahm, aufgab und ein paar Tage später wieder von vorn begann. Über 504 Stunden, in denen sich seine Eltern fragen, was mit dem Jungen passiert ist. 30.240 Minuten, in denen die Hoffnung von Sekunde zu Sekunde kleiner wird.

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Was auf den ersten Blick wie eine lange Zeit wirkt, ist für manche Familien erst der Anfang einer langen, vielleicht nie endenden Odyssee. In Deutschland gelten laut Bundeskriminalamt im vergangenen Jahr insgesamt rund 16.500 Kinder als vermisst. Laut BKA gelten Minderjährige als vermisst, wenn sie ihren gewohnten Lebensbereich verlassen haben und ihr Aufenthaltsort unbekannt ist. Die Zahl schwankt deshalb sehr. Und die Zeit, so fühlt es sich für die Angehörigen an, läuft gegen die Vermissten.

Vor zwei Jahren im September verschwand Milina K. im Luckenwalder Nuthepark. Seitdem fehlt von ihr jede Spur.

Junge Frau aus Brandenburg seit zwei Jahren spurlos verschwunden – der mysteriöse Fall Milina K.

Milina K. aus Luckenwalde ist seit zwei Jahren wie vom Erdboden verschluckt. Die Staatsanwaltschaft vermutet ein Tötungsdelikt und ermittelt gegen einen Tatverdächtigen. Welche Erkenntnisse gibt es?

„Jede Minute ist wichtig“

Neben den Eltern der vermissten Kinder und den Ermittlungsbehörden weiß das wohl kaum einer so gut wie Lars Bruhns. Er ist Vorstand der Initiative für vermisste Kinder und hat viele Vermisstenfälle begleitet. Aus seiner Sicht gebe es keinen falschen Alarm, den Eltern oder Erziehungsberechtigte absetzen könnten, wenn ein Kind verschwindet. „Jede Minute ist für eine schnelle Fahndung wichtig“, sagt Bruhns im Gespräch mit dem RND.

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Und: Für die Suche nach einem vermissten Kind werden in vielen Fällen noch lange nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, sagt Bruhns. Für ein Instrument braucht es noch nicht einmal große Mühen, die Infrastruktur dafür ist längst da: Cell Broadcast. Der Mobilfunkdienst, mit dem Warnnachrichten direkt auf das Handy oder Smartphone geschickt werden können und der eigentlich für Naturkatastrophen und andere Extremereignisse vorgesehen ist.

Ein gebasteltes Kleeblatt mit der Aufschrift „Arian komm wieder. Wir geben die Hoffnung nicht auf“ hängt an einem Zaun.

Ein gebasteltes Kleeblatt mit der Aufschrift „Arian komm wieder. Wir geben die Hoffnung nicht auf“ hängt an einem Zaun.

Andere Länder nutzten einen ähnlichen Dienst bereits, wenn ein Kind verschwinde. Die Niederlande, Belgien oder Luxemburg. In Deutschland werde das aber bisher nicht genutzt. Eine vertane Chance, findet Bruhns. Wenn die Tochter oder der Sohn nicht nach Hause zurückkehrt, ist das nicht eine innerliche Naturkatastrophe? Wieso also nicht genau so reagieren?

Die meisten Kinder tauchen wieder auf

Die gute Nachricht ist: Die meisten Kinder, die als vermisst gemeldet werden, tauchen nach kurzer Zeit wieder auf. Und den meisten von ihnen ist kein Verbrechen zugestoßen, sie sind nicht verletzt. Denn häufig sind die Kinder freiwillig von zu Hause weggelaufen, halten sich bei dem anderen Elternteil auf oder im Freundeskreis. Laut Bundeskriminalamt liegt die Aufklärungsquote mit Blick auf die vergangenen sechs Jahre bei 99,8 Prozent. Aber die übrigen 0,2 Prozent sind nicht allein Fälle, in denen die Behörden von einem Verbrechen ausgehen. Nur ein Bruchteil des Bruchteiles der vermissten Kinder wird von der Polizei als Kriminalfall eingestuft.

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Das BKA verzeichnet 1800 ungeklärte Fälle vermisster Kinder in der Datei „Vermi/Utot“. Das ist Polizeisprech für Vermisste und unbekannte Tote. Mehr als zwei Drittel dieser Kinder sind laut BKA unbegleitete Geflüchtete, sogenannte Dauerausreißer und Streuner oder wurden ihren Sorgeberechtigten entzogen, also von einem Elternteil ohne Erlaubnis verschleppt. Ein Beispiel, das Bruhns nennt, ist der Fall der Familie Block, der dieses Jahr immer wieder für Aufmerksamkeit sorgte. „Das ist etwas Klassisches, dass nach einer Trennung ein Elternteil die Kinder mitnimmt, gegen den Willen des anderen. Dann werden die Kinder auch als vermisst gezählt.“

Ein unbeobachteter Moment, der alles verändert

Der kleine, verbleibende Anteil der Vermisstenstatistik ist der, der nicht nur den Familien und den Behörden Sorgen bereitet, sondern auch Lars Bruhns. Es sind die Fälle, in denen die Polizei befürchtet, dass die Kinder Opfer einer Straftat oder eines Unglücksfalls geworden sind, dass sie hilflos oder tot sind. Der Fall, dass ein Entführer mit einem weißen Transporter vorfahre und ein Kind entführe, sei dabei aber eher eine Erfindung der Filmindustrie, sagt Bruhns. Viel häufiger verhielten sich die Täter unauffälliger, indem sie in einem unbeobachteten Moment ein Kind bei der Hand nähmen und sich mit ihm entfernten.

Das passierte im Jahre 2015 etwa dem vierjährigen Mohammed in Berlin. Es gibt ein Foto, das den Täter Silvio S. mit dem Jungen händchenhaltend an einer belebten Straße zeigt. Kurze Zeit später wurde Mohammed von ihm missbraucht und anschließend getötet. Neben Mohammed tötete Silvio S. zudem den fünfjährigen Elias aus Potsdam.

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Nicht nur wegen des Bildes erinnert sich Bruhns noch gut an den Fall. Auch weil er wissen wollte, wie viele der vermissten Kinder am Ende wirklich einem Verbrechen zum Opfer fallen. Eine von vielen Sackgassen für Bruhns. Denn eine Statistik darüber gebe es bisher nicht.

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Für Bruhns gibt es in den rund 30 Jahren, in denen er mit Familien vermisster Kinder in Kontakt steht, eine Menge Fälle, die ihn weiter begleiten. Nicht immer gibt es eine Antwort darauf, was mit einem Kind passiert ist. Von manchen Kindern gibt es auch nach Jahrzehnten intensiver Suche keine Spur. Eine nahezu unaushaltbare Situation, schildert Bruhns: „Wenn man sieht, was das mit den Familien macht, die für den Rest ihres Lebens damit klarkommen müssen, dass sie nie erfahren werden, was mit ihrem Kind passiert ist, ist das eine enorm harte Nummer.“ Sie wüssten innerlich bereits, dass ihr Kind nicht mehr am Leben ist. Vielen würde eine Nachricht vom Tod ihres Kindes eine Form der Befreiung geben. Dann könne endlich getrauert werden, ein finaler Abschied vom Kind, der nie vorgesehen war.

Kritik an „Aktenzeichen XY“

Als die fünfjährige Inga in Stendal verschwindet, ist Bruhns im engen Kontakt mit der Familie. Nachdem er sie und und die jüngere Schwester des Mädchens besucht, spürt er eine tiefe Traurigkeit, aber auch ein Unverständnis darüber, dass für ihn nicht alle Möglichkeiten bei der Suche ausgeschöpft sind. Auch hier hätte aus seiner Sicht Cell Broadcast helfen können, um alle Menschen in der Umgebung für den Vermisstenfall zu sensibilisieren. „Ich bin mir sicher, dass Menschen im Notfall bereit wären, die Augen aufzuhalten und einmal von ihrem Handy informiert zu werden“, sagt Bruhns. Der Fall Inga ist heute ein Cold Case, ein unaufgeklärter Fall, in dem nicht mehr ermittelt wird.

Cold Cases finden auch immer wieder einen Platz in Sendungen wie „Aktenzeichen XY“. Bruhns sieht sie aus Prinzip nicht. Die Geschichten der Kinder im Fernsehen auszustrahlen hält er vor allem für die Familien für problematisch. „Moderator Rudi Cerne kann da noch so einfühlsam sein, für sie wirbelt das einfach zu viel auf“, sagt Bruhns. Es schade den Familien, gleichzeitig gebe es dadurch kaum einmal einen wirklichen Durchbruch. Und trotzdem sieht er die Medien und sozialen Netzwerke als weiteren Türöffner: Immer dann, wenn ein Kind verschwinde, könnten auch Tiktok und andere Plattformen helfen, um Vermisstenmeldungen schnell und breit zu streuen.

Hoffnungslosigkeit ist deshalb kein Gefühl, das Bruhns sich unterstellen lassen möchte. Die Arbeit treibe ihn an, nicht nur weil seine mittlerweile verstorbene Mutter die Organisation in den 1990er-Jahren ins Leben rief. Für ihn bleibt immer die Hoffnung, der nächste Hinweis oder die nächste Aktion könne ein Kind wieder nach Hause bringen. Es ist die Hoffnung, dass zwischen dem Verschwinden und der Rückkehr des Kindes nur eine kurze Zeit bleibt.



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