Moskau/London. Nach dem Anschlag auf eine Konzerthalle bei Moskau mit mindestens 133 Toten führt nach Darstellung Russlands eine Spur in die Ukraine. Für die vier mutmaßlichen Attentäter sei nach der Tat ein „Fenster“ für einen Grenzübertritt in die Ukraine vorbereitet worden, sagte der russische Präsident Wladimir Putin am Samstag in einer Ansprache. Sie seien aber noch in der russischen Grenzregion Brjansk gefasst worden.

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Die Ukraine dementierte jegliche Verwicklung in den Anschlag, zu dem sich die Terrororganisation Islamischer Staat bekannte. Putin wolle damit nur weiter anti-ukrainische Ressentiments schüren, teilte das Außenministerium in Kiew mit.

Kontakte in die Ukraine? „Das sind Fake News“

Am Samstag sprach der Kremlchef von einem „blutigen, barbarischen Terroranschlag“ und teilte mit, im ganzen Land seien zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen worden. Den Sonntag erklärte er zum nationalen Trauertag. Neben den vier nahe der Grenze gefassten Verdächtigen, die nach russischer Darstellung den Anschlag verübt hatten, wurden auch sieben weitere Personen festgenommen, wie das Ermittlungskomitee, Russlands oberste Ermittlungsbehörde mitteilte. Die staatliche Nachrichtenagentur Tass berichtete unter Berufung auf den Inlandsgeheimdienst FSB, die Verdächtigen hätten „Kontakte“ in der Ukraine gehabt.

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Der Terrorismusexperte Peter Neumann vom King‘s College in London glaubt nicht an eine Beteiligung der Ukraine an dem Anschlag in Moskau. „Das sind Fake News, die von russischen Kanälen verbreitet werden. Die Absicht dahinter ist, dass man von dem Versäumnis ablenken möchte, den Anschlag nicht verhindert zu haben, was zweifellos Wladimir Putin angekreidet werden muss“, erklärte Neumann dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) in einem Interview.

„Es gibt keine echten Belege, die in eine andere Richtung deuten“

Der russische Präsident stelle sich schon lange als jemand dar, der die Russinnen und Russen vor Dschihadisten beschützen kann. „Dass Russland nach wie vor ein Ziel von Dschihadisten ist, ist für Putin sehr peinlich“, führte der Experte aus. Vor dem Hintergrund, dass sogar die USA vor einem solchen Anschlag gewarnt haben, lasse ihn das sehr schwach und nachlässig erscheinen. „Deswegen ist die Verbreitung solcher Fake News eine Strategie, um genau davon abzulenken. Russland wird alles tun, um den Vorfall anders erscheinen zu lassen, als das, was er tatsächlich ist – nämlich ein dschihadistischer Anschlag“, so Neumann. Moskau versuche nun mit allen Mitteln, von der eigenen Verantwortung abzulenken.

Für den Terrorismusexperten ist klar, dass der Anschlag vom IS Ableger Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISPK) verübt wurde. „Die Bekennernachricht wurde über mehrere offizielle IS‑Kanäle verbreitet. Auch die Sprache und der Kontext stimmen. Es wird beispielsweise davon gesprochen, dass sich Täter in ihre Basen zurückgezogen haben. Das ist eine typische IS‑Formulierung, wenn es nicht um Selbstmordattentate geht“, erklärte Neumann weiter. „Es passt alles zusammen. Es gibt keine echten Belege, die in eine andere Richtung deuten.“

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Chefin des Staatsmediums RT macht Ukrainer für Anschlag verantwortlich

Neben dem politischen Moskau sah auch die Chefin des russischen Staatsmediums RT, Margarita Simonjan, die Verantwortlichen für den Terroranschlag nicht bei der Terrormiliz Islamischer Staat. Diese Version sei von US-Seite gestreut worden, behauptete sie am Samstag bei Telegram, ohne Beweise vorzulegen. Nach Darstellung Simonjans, die in russischen Geheimdienstkreisen gut vernetzt ist, sollen hingegen Ukrainer für die Tat verantwortlich sein. Die Täter seien so ausgewählt worden, „dass man eine dumme Weltgemeinschaft davon überzeugen kann, dass es der IS war“, teilte Simonjan weiter mit. Die Putin-Vertraute gilt als Verfechterin des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.

Auf einem von Simonjan veröffentlichten Video sagte ein mutmaßlicher Todesschütze, dass er gegen Geld, und zwar für 500.000 Rubel (rund 5000 Euro), in der Konzerthalle geschossen habe. Zu den Auftraggebern sagte er auf dem veröffentlichten Clip aber nichts. Einen anderen Mann, der Tadschikisch sprach, präsentierte Simonjan in einem Video als Kopf der Bande. Offiziell bestätigt von den russischen Behörden waren diese Informationen nicht. Sie sagte auch, dass die Aussagen der Verhörten nicht komplett seien. Die Echtheit der Videos konnte zunächst nicht überprüft werden.

Krisen-Radar

RND-Auslandsreporter Can Merey und sein Team analysieren die Entwicklung globaler Krisen im wöchentlichen Newsletter zur Sicherheitslage – immer mittwochs.

Die Behörden in Tadschikistan wiesen nach Auftauchen von Passdaten mutmaßlicher Täter in den sozialen Netzwerken darauf hin, dass die namentlich genannten Männer sich nicht in Russland, sondern in der zentralasiatischen Republik aufhielten. Womöglich waren die Pässe der Verdächtigen gefälscht. Ein weiterer Tadschike halte sich in der russischen Stadt Samara auf, hieß es von den Behörden. Tadschikistan, das an Afghanistan grenzt und als ein Rückzugsort auch von islamistischen Terroristen gilt, wies eine Beteiligung an dem Verbrechen zurück.

Selenskyj-Berater weist Vorwürfe als „geplante Provokation des Kreml“ zurück

„Die Ukraine hat noch nie auf die Nutzung von terroristischen Methoden zurückgegriffen“, schrieb Mychajlo Podoljak, ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, auf der Plattform X in einer Reaktion auf Anschuldigungen aus Russland. „Alles in diesem Krieg wird nur auf dem Schlachtfeld entschieden werden.“ Das ukrainische Außenministerium sprach von einer „geplanten Provokation des Kremls, um die anti-ukrainische Hysterie in der russischen Gesellschaft weiter anzufachen“. Ziel sei es, damit auch russische Bürger für den Angriffskrieg zu mobilisieren.

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Bewaffnete Angreifer hatten am Freitagabend das Veranstaltungszentrum Crocus City Hall am Rande der russischen Hauptstadt gestürmt und offenbar wahllos auf die Besucher geschossen. Über ihr Sprachrohr Amak erklärte die Terrormiliz Islamischer Staat in Afghanistan, dass sie eine große Versammlung von Christen in Krasnogorsk am Rande von Moskau attackiert und dabei Hunderte Menschen getötet und verletzt habe. Aus US-Geheimdienstkreisen verlautete, man gehe davon aus, dass tatsächlich der IS verantwortlich war. Die US-Botschaft hatte zuvor bereits vor der Möglichkeit eines Terroranschlags auf Menschenansammlungen in Moskau gewarnt. Den Russen sei auch konkret die IS-Zelle als möglicher Urheber genannt worden, sagte der Geheimdienstvertreter. Putin bezeichnete die Warnungen aber als Versuch, Russen einzuschüchtern.

Ermittler suchen nach weiteren Leichen

Der blutige Angriff ereignete sich, als sich eine Menschenmenge für ein Konzert der russischen Rockband Piknik in der Veranstaltungshalle versammelte, die mehr als 6000 Besucher fasst. Bilder und Videos des Anschlags wurden vielfach von russischen Medien und in Telegram-Kanälen geteilt. Darin waren vier Angreifer zu sehen, die mit Sturmgewehren aus nächster Nähe auf schreiende Menschen feuerten.

Laut Medienberichten warfen die Verdächtigen auch mit Sprengsätzen um sich, wodurch ein Großbrand ausbrach. In der Nacht stürzte das Dach des Gebäudes in sich zusammen. Am Samstag suchten die Ermittler in den Trümmern nach weiteren Leichen. Hunderte Moskauer standen in Schlangen an, um Blut und Blutplasma zu spenden.

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Im Laufe der Jahre hat der IS Kämpfer aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion rekrutiert und sie in Syrien und im Irak eingesetzt. Zudem hat die Terrormiliz mehrere Anschläge im Kaukasus und anderen russischen Regionen für sich reklamiert. Im Oktober 2015 hatten IS-Terroristen mit einer Bombe ein russisches Passagierflugzeug über der ägyptischen Halbinsel Sinai zum Absturz gebracht. Alle 224 Menschen an Bord kamen ums Leben. Die meisten der Passagiere waren Russen, die auf dem Rückflug aus dem Urlaub waren.

RND/nis/dpa/AP



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