Seit dem 24. Februar 2022 kämpfen die Ukrainer gegen die russische Invasion. Die große Mehrheit der Menschen im Land ist gegen diesen Krieg und will ihre Heimat gegen Putins Aggression verteidigen. Doch wie sieht es im vermeintlichen Bruderstaat Russland aus?  Nach der Beerdigung des Putin-Gegners Alexei Nawalny , dessen Todesumstände nach wie vor ungeklärt sind, kam es zu offenen Protesten gegen Präsident Wladimir Putin.

„Russland ohne Putin“, „Putin ist ein Mörder“, „Russland wird frei“ und „Nein zum Krieg“ skandierten die Menschen in Sprechchören, wie Reporter berichten. Sie gehören zu denen, die diesen Krieg nicht wollen – und die sich in Russland trauen, ihren Unmut öffentlich zu zeigen.

Der Russland-Experte Alexander Libman erklärt im Interview mit FOCUS Online, warum es in Russland so still ist – und wie die Chancen stehen, Putin von innen zu stoppen.

FOCUS online: Herr Libman, seit mehr als zwei Jahren führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Gibt es, abgesehen von den jüngsten Anti-Putin-Parolen bei der Beerdigung von Nawalny, nennenswerten Widerstand gegen das Regime und den Krieg oder erstickt Wladimir Putin alles im Keim?

Alexander Libman: Zurzeit gibt es in Russland keinen nennenswerten Widerstand gegen das Regime Putin. Es liegt zum einen an der effektiven Nutzung von Repressionen – jegliche Form von Protest wird schnell unterdrückt – und Propaganda, als auch daran, dass die russische Wirtschaft in einem ziemlich guten Zustand ist.

Trauen sich viele Russinnen und Russen aus Angst vor den Reaktionen nicht, sich gegen Putin aufzulehnen?

Libman: Man darf nicht vergessen: Das wahre Ausmaß der Ablehnung autoritärer Regime in der Bevölkerung kann man oft erst dann einschätzen, wenn die Regime schon gefallen sind. Die Menschen sprechen ungern über ihre echten Gedanken und Gefühle in einer Autokratie. Auch mögliche Akteure in der Elite, die sich Putin widersetzen könnten, bemühen sich natürlich darum, ihre Pläne geheim zu halten. Trotzdem lässt sich aus den uns bekannten Daten kein nennenswerter Widerstand erkennen.

 

Russland-Experte über Kriegspropaganda und russischen Code

Viele in Russland wissen nicht, was wahr und was erlogen ist. Wie sieht die Kriegspropaganda derzeit in Russland aus?

Libman: Die Kriegspropaganda kombiniert verschiedene Erzählungen, die zum Teil widersprüchlich sind, aber gerade deshalb unterschiedliche Gruppen erreichen. Es gibt einerseits nationalistische Narrative über Russland, das auf Bedrohungen seitens der Nato reagieren muss, starke Unterstützung im globalen Süden – oft „globale Mehrheit“ genannt – genießt und die Menschen von Donbass vor einem Genozid durch ein faschistisches Regime in Kiew schützt.

Es gibt andererseits jedoch auch Erzählungen, dass das Leben in Russland weitgehend normal ist und der Krieg – die „special military operation“ – etwas ist, was nur die „Professionals“ aus dem Militär und die Freiwilligen betreiben. Das soll also für die meisten Menschen keine direkten Auswirkungen haben.

Welche „Geschichte“ erzielt die stärkere Wirkung?

Libman: Die zweite Erzählung ist besonders wichtig, denn die russische Gesellschaft bleibt nach wie vor stark depolitisiert. Es gibt auch eine dritte Gruppe von Erzählungen – sie präsentieren keine kohärente Geschichte, sondern fokussieren sich eher darauf, Zweifel zu verbreiten, was und warum in der Ukraine passiert. Der russische Code dafür ist „Alles ist nie eindeutig“, was letztendlich auch Putin hilft – denn es entwertet die möglichen Gegenargumente der Opposition und des Westens als lediglich eine mögliche Geschichte.

Krieg wird nur durch Verhandlungen beendet, in denen Ukraine Zugeständnisse machen wird

Gibt es Anzeichen oder Hoffnungsschimmer, dass Russland freiwillig den Krieg beenden könnte? In welcher Form auch immer?

Libman: Das hängt davon ab, wie man genau den Kriegsbeendigung definiert. Ein Szenario, in dem Russland freiwillig seine Truppen zurückzieht – sogar auf die Trennungslinien von Februar 2022, geschweige denn von den international anerkannten Grenzen der Ukraine – sehe ich nicht. Wenn der Krieg beendet wird, dann nur durch Verhandlungen, in denen leider nicht nur Russland, sondern auch die Ukraine Zugeständnisse machen wird.

Ist so etwas wie Kriegsmüdigkeit bei den Russen zu erkennen?

Libman: Ganz eindeutig! Der Krieg war eigentlich in Russland nie wirklich populär. Die Gruppe der Bevölkerung, die den Krieg wirklich unterstützt, ist sehr klein. Die meisten betrachten den Krieg als eine Art Naturkatastrophe: Es ist aus irgendwelchen Gründen passiert, ist schrecklich, dagegen kann man jedoch nichts machen, außer vielleicht „unseren Jungs“ an der Front zu helfen. Die russische Gesellschaft wird ein Kriegsende – aber keine komplette Kapitulation Russlands – sofort begrüßen. Sie toleriert aber auch den langen Krieg, was Putin ausnutzt.

Was muss aus Ihrer Sicht jetzt passieren, damit der Krieg beendet wird oder ein Ende in Sicht ist?

Libman: Es ist eine schwierige Frage. Man kann von externen Schocks reden, zum Beispiel dem Tod von Putin, die die Verhandlungsbereitschaft Russlands erhöhen. Angesichts der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Situation in Russland sehe ich jedoch kein Szenario, in dem die Ukraine den Krieg bedingungslos gewinnt – aber auch kein Szenario, in dem Putin alle seine Ziele erreicht, die er sich vor 2022 gesetzt hat.

Was heißt das für dieses Jahr?

Libman: Es ist ein Abnutzungskrieg, der noch lange dauern wird, bis die Parteien bereit sind, – wahrscheinlich sehr schwierige – Verhandlungen zu führen. Wann genau das passieren wird, kann man nicht vorhersagen.





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