Das, was Andreas Müller-Cyran als “Gründungsmythos des Krisen-Interventions-Teams” bezeichnet, beruht auf einer wahren Begebenheit, einem realen Einsatz. Als junger Rettungsassistent kam Müller-Cyran 1989 zu einem Unfall in der Landsberger Straße. Ein Sechsjähriger war von einer Tram überfahren worden, als er mit seinem Radl die Gleise querte. Inmitten der Absperrungen stand die Mutter, allein, die Einkaufstaschen noch in der Hand, als der Notarzt ihr Kind in einen Sanitätswagen heben und ins Krankenhaus bringen ließ, bei laufender Reanimation, wie man das nennt. Dass ihr Junge wohl schon tot war, begriff die Frau nicht.

Das Bild der verlassenen Mutter hat Müller-Cyran geprägt. “Wir versuchen mit großem Aufwand, Menschenleben zu retten”, sagt er, “und lassen dabei Menschen zurück, die ein Leben lang mit den Eindrücken zurechtkommen müssen.”

Nach diesem Einsatz reifte die Idee, Angehörigen, Hinterbliebenen, Betroffenen von Unglücksfällen schnellstmöglich jemanden zur Seite zu stellen; psychosoziale Akuthilfe heißt das im Fachjargon, abgekürzt PSAH. Unter dem Dach des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) initiierte Müller-Cyran ein Krisen-Interventions-Team, kurz KIT. Es dauerte einige Jahre, bis es so weit war, die Arbeit aufzunehmen: Am 9. März 1994 meldete sich das KIT bei der Rettungsleitstelle einsatz- und alarmbereit.

Gefeiert wird der 30. Jahrestag des Ereignisses erst, wenn es wärmer ist. Am 4. Mai findet auf dem Marienplatz eine große Jubiläumsveranstaltung statt, Schirmherr ist Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD), das KIT ist ja ein Münchner Erfolgsmodell. Es war weltweit das erste Team, das eingerichtet wurde, um körperlich unverletzten, aber dennoch betroffenen Menschen noch am Unglücksort beizustehen. “Der Kontext der Einsätze ist immer ein plötzlicher Tod”, sagt Müller-Cyran, ein studierter Philosoph, Psychologe und Theologe. Ziel sei zu helfen, den ersten Schreck zu bewältigen: “Wir arbeiten am Übergang vom Trauma zur Trauer.”

Einsatz nach den Attentaten vom 11. September und nach dem Tsunami in Thailand

Inzwischen hat das KIT Nachahmer gefunden, nicht nur in Deutschland. In den vergangenen drei Jahrzehnten waren die Mitarbeiter des Münchner KIT ja international im Einsatz, das Auswärtige Amt hat sie bei Katastrophen mit teils mehr als hunderten Toten oft zur Betreuung von deutschen Staatsangehörigen angefordert. Nach den Attentaten des 11. September 2001 in New York und nach dem Tsunami an Weihnachten 2004 in Thailand; nach dem absichtlich herbeigeführten Flugzeugabsturz 2015 in den französischen Alpen und nach den Terroranschlägen in Paris im gleichen Jahr. Und natürlich war das KIT auch nach den rassistisch motivierten Morden vom Juli 2016 am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München für die Angehörigen da.

Wenn über das KIT berichtet wird, dann immer im Rahmen von solchen spektakulären, öffentlichkeitswirksamen Ereignissen, von Katastrophen und Tötungsdelikten. Aber das sei nur ein geringer Teil der Einsätze, sagt Müller-Cyran, “wir arbeiten alltagsnah”. Meistens rücken die Leute des KIT nach Herzinfarkten aus, nach Schlaganfällen, Verkehrsunfällen, Suiziden. In knapp drei Vierteln aller Fälle kommen sie zu Menschen nach Hause, in deren Wohnungen.

30 Jahre Krisen-Interventions-Team: 22. Juli 2016: Auch nach den rassistisch motivierten Morden am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München war das KIT für die Angehörigen da.

22. Juli 2016: Auch nach den rassistisch motivierten Morden am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München war das KIT für die Angehörigen da.

(Foto: Lukas Barth/lukasbarth.com)

An einem späten Nachmittag in dieser Woche sitzt Andreas Müller-Cyran in seinem Büro im Erzbischöflichen Ordinariat in der Innenstadt und wischt über sein Smartphone: Viermal ist das KIT an diesem Tag schon angefordert worden von der Rettungsleitstelle, erzählt er, aber kein Einsatz wird es in die Nachrichten schaffen. Dabei sind ständig Mitarbeiter des KIT unterwegs, im Durchschnitt zwei- bis dreimal am Tag. Mehr als 24 000 Einsätze sind gezählt worden seit 1994 und mehr als 60 000 Menschen betreut worden. “Wenn etwas passiert, braucht der Notarzt sieben Minuten bis zum Einsatzort, das KIT ist nach 20 Minuten da, notfalls auch mit Blaulicht”, sagt Müller-Cyran.

Es geht darum, Struktur und Ruhe in eine chaotische Situation zu bringen

Bei manchen Einsätzen sind die Teammitglieder nach zwanzig, dreißig Minuten wieder weg und haben nur ein paar Dinge für die Angehörigen geregelt. Eine “erste emotionale Stabilisierung, damit sie später irgendwo anknüpfen können”, wie Müller-Cyran das formuliert. Um andere Betroffene kümmert sich das KIT vier, fünf Stunden. Einen festen Ablaufplan für die Betreuung gibt es nicht, es geht darum, Struktur und Ruhe in eine chaotische Situation zu bringen.

Wenn die KIT-Mitarbeiter ankommen, herrscht in der Regel “eine ganz große Sprachlosigkeit”, hat Müller-Cyran in all den Jahren gelernt. Das Schweigen zu brechen, sei aber nicht das Wichtigste, sondern die Präsenz, eine “engagierte Form des Da-Seins”, wie er es formuliert, “erst in zweiter Linie das, was man sagt”.

Aktuell kann das Krisen-Interventions-Team auf 61 Einsatzkräfte zurückgreifen, die alle rein ehrenamtlich arbeiten, so wie Andreas Müller-Cyran auch immer noch. 17 Personen werden gerade an einer eigens dafür eingerichteten Akademie ausgebildet; aus dem ganzen deutschsprachigen Raum kommen Interessenten dorthin. “Das zeigt, dass man so etwas qualifiziert im Ehrenamt machen kann”, blickt der KIT-Gründer zurück auf das, was er aufgebaut hat.

Ihn beschäftigt allerdings, was bis heute noch nicht gelungen ist: einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen für die Arbeit von Krisen-Interventions-Teams. “Wir sind der einzige Rettungsdienst, der ohne gesetzliche Grundlage tätig ist”, hadert er mit der fehlenden Anerkennung der Politik auf Bundes- und Landesebene. In München sehe man seit 30 Jahren, dass das KIT “einen festen Platz hat in der Rettungskette”; hier werde das Engagement auch von der Stadt finanziell unterstützt. Zudem sei das KIT in den Köpfen von Polizei und Feuerwehr verankert und werde regelmäßig zu Hilfe gerufen. “In München sind wir gut aufgestellt”, findet Müller-Cyran, “aber wie sieht es im Landkreis xyz aus?” Da werden noch zu oft Menschen allein gelassen mit ihrem Leid.



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