München – Falschnachrichten, irreführende Behauptungen sowie Hass und Hetze verbreiten sich auf dem Kurzbotschaftendienst X des US-Milliardärs Elon Musk wie ein Lauffeuer. Oft lässt sich bei den Tweets nicht überprüfen, welche Beiträge, Fotos und Videos wirklich der Wahrheit entsprechen und hinter welchen manipulative Absichten stecken.
Um Nutzern bei der Einordnung der Beiträge auf der Online-Plattform zu unterstützen, haben die Verantwortlichen reagiert und schon vor einiger Zeit sogenannte “Community Notes” eingeführt. User, die zuvor nicht gegen Regeln verstoßen haben, können nach einer Überprüfung durch den Dienst Anmerkungen unter Beiträgen hinzufügen und die Aussagen widerlegen und einordnen.
Damit will X zu einer “besser informierten Welt beitragen”, heißt es auf der Homepage. Erst wenn die kollektiven Anmerkungen von genug Mitwirkenden mit “verschiedenen Ansichten” als hilfreich bewertet wurden, erscheint der hinzugefügte Kontext demzufolge unter dem Tweet des Urhebers.
Fake-News im Internet: CSU-Chef Markus Söder landet in der Rangliste auf Platz 173
Bei welchen Accounts Nutzer besonders oft Korrekturen anbringen, zeigt ein Ranking aus den USA. Auf einer Homepage werden die 200 Accounts aufgeführt, bei denen die X-Nutzer am häufigsten aktiv wurden. In der Liste reihen sich Verschwörungsideologen, Influencer und Politiker aneinander.
Kein Nutzer aus Deutschland wird dort aufgeführt – außer einem: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder. Mit insgesamt 23 “Community Notes” taucht der CSU-Chef in der Liste auf. Seit Monaten hält er sich dort unter den Top 200. Am Freitag befand sich Söder auf Platz 173.
Framing bei Markus Söder? Nutzer entlarven irreführende Tweets des Ministerpräsidenten
Wie es Bayerns Staatschef ins Ranking geschafft hat? Weil einige seiner Beiträge offenbar Misstrauen erwecken. In einem Tweet lud der CSU-Chef zum Beispiel ein Foto hoch, auf dem er mit Bratwurst und Grillzange in der Hand posiert. Im dazugehörigen Text macht Söder sich gegen die Pläne einer Tierwohlabgabe stark. Fleisch werde, so der Ministerpräsident, für Normalverdiener zu teuer. Einige Leser fanden diese Behauptung irreführend und fügten an: “Die Tierwohlabgabe wurde bereits 2020 von der damaligen Bundesregierung (Kabinett ,Merkel IV’) geplant, in der auch die CSU saß.”
Auch als sich Söder Ende 2023 mit dem Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) und einem an die Marvel-Comics angelehnten “Captain Bavaria”-Bild – einem Geschenk der Interessensvertretung – ablichten ließ, schritt die Community ein. Was sie störte? Söders Online-Protest gegen die Anhebung der “Gastro-Steuer”. Die Community hat in einer Anmerkung verdeutlicht, dass es eine solche Steuer nicht gibt, sondern damals nur der im Zuge der Coronapandemie eingeführte begünstigte Umsatzsteuersatz auslief.
Auch die Debatte um das geplante Verbrenner-Aus bis 2035 wurde zum Diskussionsgegenstand. Die User erinnerten Söder an seine eigenen Aussagen in der Vergangenheit. Sie verlinkten mehrere Berichte, in denen der Politiker 2007 ein Verbot von Fahrzeugen mit fossilen Treibstoffen forderte. Und dass er die Forderung 2020 sogar wiederholte.
Leser rechnen Zahlenangaben von Söder nach – und platzieren Hinweis unter seinem Beitrag
Darüber hinaus werden auch Zahlen, die der CSU-Chef auf X anführt, von den Lesern genau unter die Lupe genommen. So pochte Söder auf die Einführung einer Null-Prozent-Steuer auf Grundnahrungsmittel und sprach von einer potenziellen Entlastung für Haushalte in Höhe von bis zu 1000 Euro.
Die Leser nahmen selbst einen Taschenrechner zur Hand und kamen zu einem anderen Ergebnis: Laut ihnen muss ein Vier-Personen-Haushalt mindestens 14.000 Euro pro Jahr für Grundnahrungsmittel ausgeben, um wirklich auf die genannte Ersparnis zu kommen.
LMU-Experte für Soziale Medien meint: “Das Ranking sollte ihn vermutlich beunruhigen”
Nikil Mukerji von der LMU in München untersucht, wie derartige Beiträge in den Sozialen Medien das Denken beeinflussen. Er ist Vorsitzender des Wissenschaftsrats der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) und beschäftigt sich dabei unter anderem mit Verschwörungstheorien. “Dass Herr Söder im Ranking auf einem so unschmeichelhaften Platz landet, sollte ihn vermutlich beunruhigen. Jedenfalls ergibt das keinen guten Look”, sagt der Philosoph zur AZ.
Es gebe allerdings auch Faktoren, die ein solches Ranking beeinflussen. “Wenn ein Account viele ideologische Gegner hat, dann werden alleine dadurch mehrere Notes entstehen”, meint Mukerji. Das Gleiche gilt ihm zufolge, wenn Nutzer mehr Aufmerksamkeit bekommen als andere. Dann würden auch mehr “Notes” entstehen, wobei die Schwere der Fehlinformation nicht berücksichtigt werde.
Tweets müssten “knackig” sein: Politiker müssten dabei nicht logisch argumentieren
Die These des Experten: Man könne auf Sozialen Medien nicht verlangen, dass bei Beiträgen der gesamte Kontext mitgeliefert wird. Tweets müssten aufgrund der Natur des Mediums “knackig” sein. Zudem sollten Leser besonders bei Beiträgen von Politikern davon ausgehen, dass sie Wähler mitnehmen wollen und keiner strikt logischen Argumentation folgen.
Mukerji verdeutlicht das mit einem Vergleich: “Einem Verkäufer würde man auch nicht vorwerfen, dass er sein Produkt gut aussehen lässt, solange er dabei nicht offen lügt.” Bei Bayerns Ministerpräsident Ministerpräsident müsse man nicht denselben Maßstab anlegen, wie an seriöse Pressemedien.
Kommunikationswissenschaftler Benjamin Krämer: “Söder operiert an der Grenze”
Kritisch findet einzelne Söder-Beiträge der Kommunikationswissenschaftler Benjamin Krämer von der LMU. Auch er forscht zur Wirkung von Sozialen Medien. “Gefährlich kann eine solche Kommunikationsstrategie sein, wenn dadurch eine vernünftige Diskussion aktueller Politik untergraben wird, indem systematisch nur noch stark verzerrt kommuniziert wird”, sagt der Experte zur AZ. “Ich persönlich finde, dass Söder mit seinen Posts schon an der Grenze des Legitimen oder etwas darüber hinaus operiert.” Und das auch, wenn man Politikern einseitige Deutungen bis zu einem gewissen Punkt zugestehen müsse.
Was dann das Problem ist? Der Spitzenpolitiker schreibt laut Krämer nicht nur, was zu seiner politischen Botschaft passt, sondern legt auch Deutungen nahe, die den Sachverhalten nicht mehr gerecht werden. Irreführende Behauptungen könnten die Leser beeinflussen, wenn sie nur wenig Hintergrundwissen haben. Das ist im Grunde positiv für Söder, doch diese Beiträge haben genauso auch negative Auswirkungen: Wenn Aussagen durch die “Community-Notes” eingeordnet werden, leidet das Vertrauen in die Politik darunter, meint Krämer. Auch die Glaubwürdigkeit ginge verloren.
Was bleibt: Söder erscheint in der Rangliste neben Personen, mit denen er wohl nicht in einer Reihe stehen möchte. Auf Platz 1 befindet sich ein brasilianischer Blogger (346 Anmerkungen), der mit extremistischen und boulevardesken Falschnachrichten auffällt. Platz 2 erreicht Jackson Hinkle (281 Anmerkungen), ein US-Influencer, der russische und anti-israelische Positionen teilt. Auch der X-Chef Elon Musk (70 Anmerkungen) hat es in die Liste geschafft. Der CSU-Chef hat sich zur Rangliste und seinen Beiträgen auf AZ-Anfrage nicht geäußert.