FOCUS online: Herr Weber, lohnt sich arbeiten noch?

Enzo Weber: Definitiv. Arbeit bietet so viele Entwicklungsmöglichkeiten, so viele Zukunftschancen, dass diese Frage nur mit „Ja“ zu beantworten ist. Die politischen Regelungen sollten genau das unterstützen – und Lust aufs Arbeiten machen.

Sie sind Arbeitsmarktforscher und haben sich zuletzt intensiv mit dem Thema „Bürgergeld“ beschäftigt. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?

Das Bürgergeld ist grundsätzlich sinnvoll und kam zum richtigen Moment. Es setzt auf Qualifizierung, berufliche Entwicklung und Kooperation auf Augenhöhe. Das brauchen wir in einer Zeit, in der die Arbeitskräfte knapp sind und sich die Anforderungen mit der wirtschaftlichen Transformation verändern.

Aber es gibt bestimmt auch negative Aspekte.

Ja. Insgesamt beobachten wir einen Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit – und eine Verfestigung der Erwerbslosigkeit. Die Arbeitsaufnahmen sind gesunken, das liegt teilweise auch an den Erleichterungen der Bürgergeld-Reform. Das Phänomen als solches gibt es aber schon länger.

Seit wann genau?

Wir haben eine lange Krisenzeit hinter uns. Das hat mit Corona angefangen, also vor der Einführung des Bürgergelds. Die Jobchancen von Arbeitslosen waren deutlich gesunken. Je länger solche Krisen dauern, desto schwieriger wird es. Weil Arbeitserfahrung veraltet und es immer herausfordernder wird, wieder den Sprung in den Job zu schaffen.

Bürgergeld: „Die Forschung ist erst am Anfang“

Zurück zum Bürgergeld: Sie meinten, die Reform spielt auch eine Rolle, wenn es um Arbeitsaufnahmen geht?

Genau, das haben unsere Erhebungen gezeigt. Nach der Einführung von Hartz IV nahmen deutlich mehr Arbeitslose Jobs auf. Beim Bürgergeld beobachten wir den gegenteiligen Effekt. Das muss aber nicht heißen, dass die Hartz-IV-Regeln grundsätzlich besser waren.

Betroffene nahmen oft schlechter bezahlte, weniger nachhaltige Jobs an. Und: Harte Sanktionen, wie sie bei Hartz IV üblich waren, können auch dazu führen, dass Menschen in schlechtere Jobs abrutschen oder sich irgendwann komplett vom Arbeitsmarkt abwenden.

Eine Ihrer aktuellen Untersuchungen zeigt: Seit Einführung des Bürgergelds haben 5,7 Prozent weniger Menschen in der Grundsicherung einen Job aufgenommen. Waren Sie überrascht?

Erst mal: Die Forschung ist erst am Anfang – in Zukunft sollen einzelne Komponenten der Bürgergeld-Reform untersucht werden. Regelsatz, Karenzzeit, Sanktionen und so weiter. Auch auf diese Ergebnisse sollte man genau schauen.

Aber was ist mit den Ergebnissen, die jetzt schon vorliegen? Dass durch das Bürgergeld offensichtlich der Anreiz zum Arbeiten sinkt.  

Ich war vom aktuellen Ergebnis nicht überrascht, weil es plausibel ist. Wenn ich weniger auf Druck und mehr auf Kooperation setze, wie das beim Bürgergeld der Fall ist, ist zu erwarten, dass eher weniger Jobs aufgenommen werden. Ein Hartz-Effekt in die andere Richtung, sozusagen. Die Frage ist doch eher: Wie bewerten wir das?

„Wir sprechen nicht von einem Boom der Totalverweigerer“

Und wie bewerten wir das?

Wichtig ist, dass die Reform ihre eigentlichen Ziele erreicht: eine höhere Qualifikation der Arbeitssuchenden und eine bessere berufliche Entwicklung. Dass mit der Einführung des Bürgergelds weniger Betroffene ins Arbeitsleben zurückkehren könnten, war ein bekanntes Risiko.

Warum ist das so?

Da spielen viele verschiedene Komponenten eine Rolle. Zum Beispiel die Regelsatzerhöhung um rund zwölf Prozent in 2023 und 2024. Das ist schon ziemlich viel. Je höher die Unterstützung angesetzt ist, die eine Person ohne Arbeit bekommen kann, desto geringer der Anreiz, sich einen Job zu suchen.

Das hört sich an, als hätten die Faulenzer-Vorwürfe, die es beim Bürgergeld immer wieder gibt, ihre Berechtigung.

Wir sprechen hier nicht von einem Boom der Totalverweigerer. Deshalb halte ich solche „Gerechtigkeitsdebatten“ auch für falsch. Die Regelsatzerhöhung hat sich an der Inflation orientiert, durch die gerade die Bürgergeldbezieher an Kaufkraft verloren haben.

Aber der Anpassungsmechanismus ist so ausgestaltet, dass er kurzfristig übertreibt. Das wird später ausgeglichen, im nächsten Jahr gibt es vermutlich eine Nullrunde. Dann geht die Diskussion  in die andere Richtung – ein unnötiges Hin und Her.

„Wer einen Job ablehnt, ist nicht automatisch ein krimineller Totalverweigerer“

Warum senkt das Bürgergeld den Arbeitsanreiz noch? Sie meinten, es gäbe viele Komponenten.

Das stimmt. Ein anderer Faktor ist die sogenannte Karenzzeit bei Wohnen und Vermögen. Ein Jahr lang übernimmt das Jobcenter die bisherigen Kosten einer Wohnung und die Heizkosten in angemessenem Umfang. Vermögen wird im ersten Bezugsjahr nur dann berücksichtigt, wenn es erheblich ist – also mehr als 40.000 Euro beträgt. Das senkt den Druck auf Bürgergeld-Empfänger – was gewollt war, aber möglicherweise auch Arbeitsaufnahmen verlangsamt.

Dazu kommt, dass die Sanktionen im Vergleich zu Hartz-IV deutlich aufgeweicht wurden.

Das ist auch ein wichtiger Punkt. Bürgergeld setzt nicht nur Bedürftigkeit, sondern auch Mitwirkung voraus. Was passiert, wenn jemand nicht kooperiert? Die Sanktionen fallen jetzt deutlich schwächer aus als unter Hartz IV.

Um Perspektiven im Erwerbsleben zu verbessern, kann das von Vorteil sein. Allerdings erhöhen Sanktionen die Jobaufnahmen, auch schon im Vorhinein. Dazu kommt, dass die sogenannten Eingliederungsvereinbarungen mit den Jobcentern durch Kooperationspläne ersetzt wurden. Das hat jetzt einen kooperativeren, aber weniger verbindlichen Charakter als vorher.

Wer sich durch Berichte zum Bürgergeld klickt, findet viel Schlechtes. Auch bei Jobcenter-Mitarbeitern kommt das Konzept offenbar nicht gut an, das ergab eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Die Befragten gaben an, dass sich die Anreize, eine Stelle aufzunehmen, seit der Einführung des Bürgergelds verschlechtert hätten. Außerdem war eine Mehrheit der Meinung, Bürgergeldbezieher seien weniger motiviert und schlechter erreichbar.

Solche Befragungen können informativ sein. Es werden Bewertungen eingeholt. Meine Studie hat tatsächliche Ergebnisse offengelegt, das ist der Unterschied. Wichtig ist am Ende, an welchen Stellen wir wie ansetzen, um die Bürgergeld-Reformziele zu erreichen und gleichzeitig mehr Menschen dazu zu bewegen, eine Arbeit aufzunehmen.

Wir müssen uns überlegen, was wir wollen. Sollen Menschen eine Arbeit aufnehmen, die sie dann nur wenige Monate ausüben? Bei der sie sich nicht weiterentwickeln können, die nicht nachhaltig ist? Wie stellen wir uns das vor?

Stimmt das Klischee vom „schnorrenden“ Bürgergeld-Bezieher Ihrer Einschätzung nach denn – oder hat die Reform einfach ein Image-Problem?

Ich kann das mit den Faulenzern nicht unterschreiben. Die Wirklichkeit mit Blick auf Langzeitarbeitslose sieht anders aus. Oft spielen fehlende Berufsabschlüsse, gesundheitliche Einschränkungen, familiäre Verpflichtungen, Sprachprobleme und vieles andere eine Rolle. Deshalb ist es so wichtig, beim Einzelfall anzusetzen und zum Beispiel für bessere Qualifikationen zu sorgen. Und wir müssen die richtigen Anreize schaffen.

Trotzdem gibt es Personen, die arbeiten könnten, aber lieber Bürgergeld beziehen.

Diese Schwarz-Weiß-Bilder: Steuerzahler gegen Totalverweigerer, das hilft uns nicht weiter. Natürlich kann es sein, dass sich manche Menschen mit Absicht allem entziehen. Aber das ist der falsche Fokus. Wer einen Job ablehnt, ist nicht automatisch ein krimineller Totalverweigerer. Oft hat diese Person wahrscheinlich mit Problemen zu kämpfen, die sich viele andere Menschen nicht ohne Weiteres vorstellen können.

„100-Prozent-Sanktionen halte ich für überzogen“

Das klingt sehr wohlwollend. Muss man denn nicht nehmen, was man bekommt?

Da haben Sie schon Recht: Wir brauchen eine Verbindlichkeit, Jobs anzunehmen, das zeigen auch die Studienergebnisse. Aber eine Gerechtigkeitsdebatte daraus zu machen, das ist es nicht wert. Weil so etwas immer diffamierend endet.

Die, die Hilfe bereitstellen, erheben sich über die, die zeitweise Hilfe brauchen. Natürlich gibt es Motivationsfragen. Genau an diesen Punkten muss man mit dem richtigen Maß arbeiten. Weder übermäßigen Druck ausüben noch zu nachlässig sein. Vor der Corona-Krise ist die Langzeitarbeitslosigkeit erheblich gesunken. Das Problem lässt sich also in den Griff bekommen.

Was sind denn die richtigen Anreize, das richtige Maß?

Ich hätte einige Ideen. Klar ist: Die Sozialleistungen werden abgeschmolzen, wenn man zusätzlich zum Bürgergeld arbeitet. Wer einen Job ausweitet, hat oft kaum etwas von seinem zusätzlichen Verdienst. Meiner Meinung nach muss sich das ändern. Es sollte durchgängig einen Selbstbehalt von 30 Prozent geben. Und ich schlage eine Anschubhilfe vor: Im ersten Jahr soll man noch mehr behalten dürfen, damit wirklich etwas in Gang kommt.

Würden Sie auch an den Sanktionsregeln schrauben?

Ja. 100-Prozent-Sanktionen – also das Bürgergeld bei Verstößen komplett zu streichen – halte ich für überzogen. Harte Strafen haben wie gesagt auch die Nebenwirkung, dass sie Vertrauen zerstören und Menschen in schlechte Jobs drängen. Ich würde daher auf längere statt härtere Sanktionen setzen. Das bedeutet: Strafen nicht nur für einen Monat, sondern über mehrere Monate verhängen – und dann aufheben, sobald die Person wieder mitwirkt. Das erzeugt Druck, aber keinen übermäßigen.

Vorhin sprachen Sie auch von Problemen bei der Qualifizierung.

Richtig. Oft wird diskutiert, was den Vorrang haben soll: Qualifizierung oder Vermittlung. Das muss aber gar kein Entweder-Oder sein. Sinnvoll wäre meiner Meinung nach, stärker berufsbegleitende Weiterbildungen zu fördern. Vielleicht auch in Kooperation mit dem Arbeitgeber. Und es geht auch um Investitionen in die Arbeitsmarktpolitik.

„Das Bürgergeld einzuführen, war nicht grundsätzlich falsch“

Wie meinen Sie das?

Die Voraussetzungen, um die Ziele des Bürgergelds zu erreichen – also zum Beispiel individuelle Kooperation und Qualifizierung – müssen nachhaltig geschaffen werden. Wir brauchen die Kapazitäten und Mittel dafür. Gerade gibt es eher Tendenzen in die andere Richtung. Die ersten Qualifizierungsanreize sind aus Spargründen wieder zurückgenommen worden. Da sollte man mutiger sein.

Was nervt Sie an der Bürgergeld-Debatte am meisten?

Die Verengung auf bestimmte Verhaltensbilder, die in vielen Fällen nicht der Realität entsprechen. Ich verstehe, dass das in einem offenen Diskurs, im politischen Wettbewerb nötig ist. Demokratie funktioniert so. Aber: Wir müssen mit mehr Substanz debattieren. Und uns auf Fortschritte konzentrieren. Genau dafür forschen wir.

Das heißt: Am Ende halten Sie das Bürgergeld nicht für einen Fehler.

Genau. Das Bürgergeld einzuführen, war in meinen Augen nicht grundsätzlich falsch. Aber bei den Arbeitsaufnahmen geht noch mehr. Einige Schritte dafür kann man schon jetzt gehen. Und es kommen weitere wissenschaftliche Untersuchungen, zum Beispiel zu einzelnen Regelungen der Reform. Die sollten wir uns sehr genau anschauen – und daraus lernen.





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