Der Goldene Saal im Wiener Musikverein ist der berühmteste Konzertsaal der Welt. Die Zweite von Brahms wurde hier uraufgeführt, die Dritte, Vierte und Achte von Bruckner, Mahlers Neunte und viele andere Werke. Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker wird aus dem 1870 eröffneten Prachtbau im Ringstraßenstil alljährlich in alle Welt übertragen.

Und natürlich ist es für Münchner Orchester eine Frage des Prestiges, diesem Allerheiligsten der Musik regelmäßig zu huldigen: Vor den Philharmonikern, die dort im April unter Daniel Harding gastieren werden, hatte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Simon Rattle am vergangenen Wochenende zwei Auftritte in diesem Saal.

Simon Rattle und das BR-Symphonieorchester spielen in Wien: München hat keinen Saal mit Aura

Das ist immer ein besonderes Ereignis, weil München mit dem BR-Symphonieorchester, den Philharmonikern und dem in der Staatsoper beheimateten Bayerischen Staatsorchester drei absolut erstklassige Klangkörper hat, aber seit dem Untergang des Odeons im Zweiten Weltkrieg keinen berühmten Konzertsaal mit einer dem Goldenen Saal vergleichbaren Aura.

Der Herkulessaal ist trist, die Isarphilharmonie ein schönes, aber etwas mühsam erreichbares Provisorium. Nur das Nationaltheater mit seiner Mozart-, Wagner- und Strauss-Tradition kann da mithalten, aber es ist eine Rekonstruktion mit einer Aura aus zweiter Hand.

Der Musikverein ist dank der Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker das berühmeste Konzertsaalgebäude der Welt.
Der Musikverein ist dank der Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker das berühmeste Konzertsaalgebäude der Welt.
© picture alliance/dpa/APA
Der Musikverein ist dank der Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker das berühmeste Konzertsaalgebäude der Welt.

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Im Musikverein ist die Musikgeschichte stets gegenwärtig. Das betont auch Rattle bei einem Gespräch im Dirigentenzimmer nach der Aufführung von Gustav Mahlers Sechster. Die Frage zur umstrittenen Reihenfolge der Mittelsätze der Sechsten beantwortet er, vom Sofa aufspringend, am Klavier, indem er die Beziehung zwischen dem Ende des Scherzos und dem Beginn des Finales am Klavier deutlich macht. Dann kommt er auf die inspirierende Tradition zu sprechen, die jedes Gastspiel im Goldenen Saal zu einem besonderen Ereignis macht: Mahler hat hier selbst dirigiert und mit seinen riesigen Orchesterbesetzungen den zur Verfügung stehenden Platz auf dem Podium restlos ausgereizt.

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Goldenen Saal.
Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Goldenen Saal.
© Astrid Ackermann
Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Goldenen Saal.

von Astrid Ackermann

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Und dann kommt das Gespräch auf das Münchner Neubauprojekt, das seit bald 20 Jahren diskutiert wird und dem Ministerpräsident Markus Söder zuletzt eine Denkpause verordnet hat. Im neuen Koalitionsvertrag ist es erwähnt: “Redimensioniert” von einem Konzerthaus zu einem Konzertsaal soll es werden. Das erfordert eine weitgehende Neuplanung des Projekts, dessen Kosten zuletzt auf eine Milliarde Euro geschätzt wurden, womöglich aus taktischen Gründen, um es zu verhindern. Andererseits dürfte die Zahl angesichts gestiegener Baukosten realistisch sein.

So könnte der Konzertsaal im Werksviertel aussehen.
So könnte der Konzertsaal im Werksviertel aussehen.
© Stiftung Konzerthaus
So könnte der Konzertsaal im Werksviertel aussehen.

von Stiftung Konzerthaus

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Verzögerung bei Sanierung des Gasteig in München: Simon Rattle ist langfristig optimistisch

Rattle berichtet, es habe zuletzt konstruktive Gespräche mit Politikern gegeben, die er davon überzeugt habe, dass man die “Redimensionierung” nicht zu weit treiben solle. “In Bayern, das ich gemerkt, dauert alles etwas länger”, so der Dirigent. Auch die Verzögerungen bei der Sanierung des städtischen Gasteig empfindet er als frustrierend. Vom Bayerischen Rundfunk fühlt sich Rattle nicht im Stich gelassen. Er sei “langfristig optimistisch”.

Der seit Beginn der Spielzeit amtierende Chefdirigent lässt sich auch auf Nachfragen nicht zu Schärfen in Richtung Politik hinreißen, wie sie etwa Anne-Sophie Mutter und andere Künstler bisweilen kultivieren. Das mag ein wenig lau wirken. aber womöglich ist beim Konzertsaal eine ruhige Beharrlichkeit politisch klüger als breitbeinige Beschimpfungen derer, die das Projekt zu beschließen und zu finanzieren haben.

Simon Rattle und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal.
Simon Rattle und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal.
© Astrid Ackermann
Simon Rattle und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal.

von Astrid Ackermann

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Orchestergastspiele sind einerseits Prestigesache. Und sie fördern den Gemeinschaftsgeist durch Stress. Mit Urlaub sollte man ihren rasch getakteten Zeitplan keinesfalls verwechseln. Denn die Wien-Reise folgte unmittelbar auf zwei Konzerte mit Rattle am Donnerstag und Freitag im Herkulessaal. Unmittelbar nach dem zweiten Abend wurden die Instrumente verladen und nach Wien befördert. Das Orchester folgte am Samstag ab 7.49 Uhr mit der wegen Bauarbeiten allein verkehrenden (privaten) Westbahn nach Wien.

Um 14 Uhr war das Hotel erreicht. Dort wird nicht nur verschnauft: Man hört auch immer wieder Musikerinnen und Musiker in den Zimmern üben. Zwei Stunden vor dem Konzert beginnt die obligatorische Anspielprobe im Konzertsaal. Auf den Treppen des Musikvereins kommen die Kollegen der Wiener Philharmoniker entgegen: Weil Martha Argerich den letzten Satz des Ravel-Konzerts wiederholt hat und noch eine weitere Zugabe gespielt hat, ging das Nachmittags-Konzert verspätet zu Ende.

Auch die Wiener Philharmoniker haben keinen Konzertsaal

Das berühmteste Orchester der Welt ist übrigens auch nur Gast im Musikverein: Die Musiker der Wiener Philharmoniker legen ihre Instrumente nach den Konzerten im Goldenen Saal in Transportkisten, als wären sie ebenfalls mit dem Lastwagen angereist, obwohl sie nur den Opernring überquert haben und in eine Seitenstraße eingebogen sind. Einige Musiker eilten in Konzertkleidung zur gleich beginnenden Vorstellung von Rossinis “Guillaume Tell” in die Wiener Staatsoper hinüber: Bekanntlich sind die Wiener Philharmoniker ein unabhängiger Verein des Orchesters dieses Opernhauses.

Diese Beobachtung widerlegt zumindest anekdotisch das von Rattle auch in Wien vorgebrachte Argument, das BR-Symphonieorchester sei der einzige Klangkörper von Weltruf ohne eigenen Saal, weil es zwischen der Isarphilharmonie und dem Herkulessaal vagabundieren müsse. Dass die Wiener Philharmoniker ohne Abstriche an ihrer Weltberühmtheit auch keinen hätten, überhört er dezent. Sein Orchestermanager Nikolaus Pont, ein Wiener, legt aber Wert auf die Feststellung, dass die Philharmoniker immerhin eigene Räume im Musikverein hätten.

Simon Rattle mit den Flötistinnen Petra Schiessel und Ivanna Ternay (rechts) im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins.
Simon Rattle mit den Flötistinnen Petra Schiessel und Ivanna Ternay (rechts) im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins.
© Astrid Ackermann
Simon Rattle mit den Flötistinnen Petra Schiessel und Ivanna Ternay (rechts) im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins.

von Astrid Ackermann

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Zu den Ritualen von Gastspielen gehört die Einspielprobe vor dem Konzert, die sich wegen der Verspätung der Wiener Philharmoniker ein wenig nach hinten verschob. Ab 18.15 Uhr ließ Simon Rattle das Orchester etwa eine Dreiviertelstunde Ausschnitte aus dem erst am Donnerstag uraufgeführten Orchesterwerk “Aquifer” von Thomas Adés, Wagners “Tristan”-Vorspiel und Beethovens “Pastorale” spielen, damit sich die Musikerinnen und Musiker auf die Akustik des Goldenen Saals einstellen können.

Die ist – nicht zu Unrecht – weltberühmt, wenn auch nicht ganz so hellhörig wie Neubauten in Luzern oder Hamburg, die sich am Klangideal digitaler Stereoanlagen orientieren. Der Musikverein hat einen deutlichen Nachhall, der die Instrumente vermischt, ohne dass ihre Eigenfarbe in einem Gesamtklangs untergehen würde.

Keine Spassettln

Den Gag mit der Ratsche am Ende von “Aquifer” hat Rattle schon am zweiten Abend wieder weggelassen. Auch in Wien dreht die Harfenistin Magdalena Hoffmann die Holzrassel. Was eine richtige Entscheidung ist: Der an den Humor des Neujahrskonzerts gemahnende Effekt passt wenig zum strahlenden Schluss dieses Stücks, der aus düsterem Ernst entsteht. Und den – auch in Wien anwesenden Adès – scheint die Änderung nicht zu stören.

Simon Rattle (mit Ratsche) und Thomas Adès nach der Uraufführung von "Aquifer" im Herkulessaal.
Simon Rattle (mit Ratsche) und Thomas Adès nach der Uraufführung von “Aquifer” im Herkulessaal.
© Astrid Ackermann
Simon Rattle (mit Ratsche) und Thomas Adès nach der Uraufführung von “Aquifer” im Herkulessaal.

von Astrid Ackermann

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Beethovens “Pastorale” beschließt den – ausverkauften – ersten Konzertabend. Danach muss die Bühne komplett für die Sonntagsvormittagsmatinee der Wiener Philharmoniker unter Zubin Mehta freigeräumt werden. Das BR-Symphonieorchester hat nur teilweise einen freien Vormittag: Einige Musiker treffen sich mit dem Social-Media-Team des Orchesters vor der Öffnung im Leopold Museum, um vor einem Akt von Egon Schiele und in Hörweite eines Selbstporträts von Arnold Schönberg Videos Musik von Erik Satie aufzunehmen, die für die Aufführung der “Gurrelieder” werben werden.

Während die ersten Musiker den Musikverein betreten, verlässt Zubin Mehta nach Bruckners Siebter mit den Wiener Philharmonkern gerade im Rollstuhl in Richtung Hotel Imperial das Gebäude. Dann um 14 Uhr die Anspielprobe in Großbesetzung für Mahlers Symphonie Nr. 6: Die verlangt mehr Anpassung an die Saalakustik. Rattle bittet das Orchester immer wieder um Zurückhaltung und probiert vor allem ruhige Passagen. Eine halbe Stunde vor dem Konzert um 15.30 Uhr stürmen dann die Stehplatzbesucher den rückwärtigen Bereich unter dem Balkon.

Österreichische Organisationskunst

Mahlers monumentale Symphonie mit den beiden Hammerschlägen wird vom Publikum anschließend heftig gefeiert: Rattle kehrt sogar noch einmal auf das Podium zurück, als das Orchester kurz nach Ende des Konzerts gegen 17 Uhr bereits an die Rückreise mit dem Zug denkt, der eine Stunde später am Westbahnhof abfährt.

Simon Rattle im Wiener Musikverein.
Simon Rattle im Wiener Musikverein.
© Astrid Ackermann
Simon Rattle im Wiener Musikverein.

von Astrid Ackermann

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Dann wird die Bühne rasch geräumt und die Instrumente verladen. Denn die gelassene Bühnenmannschaft des Musikvereins erwartet bereits Mitwirkende einer Aufführung von Bachs “Matthäuspassion”, die um halb acht im Goldenen Saal beginnt.

Die deutsche Organisationskunst wird bisweilen – zu Unrecht – bewundert. Sollten da nicht in Wahrheit vielleicht die Österreicher die wahren Meister sein, zumindest was den Konzertbetrieb am Wochenende angeht?





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