Die von der Ampelkoalition eingesetzte Expertenkommission empfiehlt der Bundesregierung in einem Gutachten, das dem RND vorliegt, den Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Er regelt bislang, dass eine Abtreibung grundsätzlich strafbar ist, es sei denn, sie findet in den ersten zwölf Wochen statt und die Frau hat sich zuvor beraten lassen. Nicht strafbar ist ein Abbruch nach derzeitiger Rechtslage auch, wenn medizinische Gründe vorliegen oder wenn er wegen einer Vergewaltigung erfolgt. Gynäkologin Annika Kreitlow erklärt im Interview, wie die Legalisierung die Versorgungslage für Schwangere verbessern würde.

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Frau Kreitlow, Sie sind seit März 2021 Aktivistin im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung und haben dort die Kampagne #wegmit218 mit initiiert. Warum engagieren Sie sich für die Abschaffung von Paragraf 218?

Während meines Medizinstudiums ist mir aufgefallen, wie prekär die Versorgungslage bezüglich Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland ist. Das Problem ist vor allem, dass wir in den letzten Jahren immer weniger Ärztinnen und Ärzte haben, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Und davon sind einige weit über das Rentenalter hinaus oder stehen kurz vor dem Rentenalter. Dazu kommt, dass einfach nicht genug junge Ärztinnen und Ärzte nachkommen. Das könnte auch daran liegen, dass das Thema Schwangerschaftsabbrüche im Facharzt der Gynäkologie nicht verpflichtend behandelt wird. Wenn wir nichts tun, wird sich die Versorgungslage für Schwangere in den nächsten Jahren noch verschlimmern. Und mir ist es wichtig, dass Menschen generell eine gute Gesundheitsversorgung haben und insbesondere ungewollt schwangere Menschen in Ausnahmesituationen.

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Wie genau könnte die Abschaffung von Paragraf 218 dabei helfen, die aktuelle Lage zu verbessern?

Schwangerschaftsabbrüche sind immer noch ein großes Tabuthema – es wird wenig darüber gesprochen. Dass so wenige Ärztinnen und Ärzte Abtreibungen vornehmen, hängt mit dem Paragrafen 218 im Strafgesetzbuch zusammen. Dabei sind sie ein normaler medizinischer Eingriff – mit 100.000 Eingriffen pro Jahr einer der häufigsten gynäkologische Eingriffe. Er wird täglich mehrfach in Deutschland durchgeführt und ist einfach zu lernen. Das wissen einfach viele Ärztinnen und Ärzte nicht, weil sie Berührungsängste haben. Dazu kommt, dass die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ein wichtiger Bestandteil dafür ist, dass Abtreibungen von der Krankenkasse übernommen werden können. Bislang ist das nicht der Fall.

Das ist Annika Kreitlow

Annika Kreitlow (28) studierte Humanmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover sowie Politikwissenschaften an der Leibniz Universität Hannover. Nach Stationen beim Centre for Feminist Foreign Policy und im Deutschen Bundestag arbeitet sie nun als Assistenzärztin in der Gynäkologie und Geburtshilfe in Berlin. Bereits in ihrem Studium engagierte sie sich unter anderem bei Medical Students for Choice, heute ist sie Sprecherin des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung und Mitglied bei Doctors for Choice e. V.

Annika Kreitlow (28), Assistenzärztin Gynäkologie/Geburtshilfe.

Annika Kreitlow (28), Assistenzärztin Gynäkologie/Geburtshilfe.

Laut Union darf man nicht an Paragraf 218 rütteln, weil er ein gesellschaftlicher Kompromiss ist. Was sagen Sie dazu?

Dieses Argument macht mich wütend. Die jetzige Gesetzesregelung ist kein Kompromiss. Er ist die nachträgliche Veränderung einer politischen Diskussion aufgrund eines Urteils des Verfassungsgerichts. Wenn man Frauen fragt, die einen Schwangerschaftsabbruch hatten, sprechen sie über viele Hürden und Einschränkungen. Viel Bürokratie, viel Hin und Her und lange Wartezeiten. Gleichgesetzt wird das mit der anderen Seite, die gegen Schwangerschaftsabbrüche ist und das Selbstbestimmungsrecht der Frau mit Füßen tritt. Das bringt für mich die Waagschale völlig aus dem Gleichgewicht.

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Deswegen finde ich es feige, an dem sogenannten Kompromiss festzuhalten. Der ist 30 Jahre alt und eine Gesellschaft verändert sich. Zu behaupten, man dürfe das Thema nicht aufmachen, weil es damals schon diskutiert wurde, ist kein gutes Argument. Das finde ich ganz schrecklich.

„Ein Gesetz zu Belästigungen am Gehsteig reicht nicht“

Bezüglich der Abtreibungsgegnerinnen und ‑gegner hat Familienministerin Lisa Paus (Grüne) jüngst einen Gesetzentwurf zu Gehsteigbelästigung vorgestellt, der Schwangere besser schützen soll. Wie wichtig ist dieser Schritt?

Das ist ein wichtiger Schritt und ich freue mich, wenn er umgesetzt wird. Gehsteigbelästigungen sind ein Grund, warum einige Ärztinnen und Ärzte entweder gar keine Abbrüche durchführen oder es nicht öffentlich deklarieren. Sie haben Angst vor den Belästigungen, und das möchte ich überhaupt nicht kleinreden. Bei uns in der Klinik in Berlin sind wir davon bislang verschont geblieben. Die Liste an Problemen zum Thema Schwangerschaftsabbrüche ist noch viel, viel länger. Für die Lösung ist die Abschaffung von Paragraf 218 ein extrem wichtiger Teil. Das kann dann ergänzt werden durch zum Beispiel ein Gesetz zur Gehsteigbelästigung. Aber ich möchte ehrlich gesagt auf gar keinen Fall, dass sich die Ampelregierung darauf ausruht. Das wird nicht genug ändern.

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Wie wahrscheinlich ist es, dass der Paragraf 218 von der Regierung gekippt wird?

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Die Ergebnisse der Kommission sind die perfekte Argumentationsgrundlage, um jetzt diesen Paragrafen zu verändern, wenn man es denn möchte. Aber ja, es gibt natürlich eine gewisse Angst, dass SPD, Grüne und FDP auf die Argumentation der Union hereinfallen. Ich fände es persönlich echt traurig und erschütternd, wenn die Regierung diese einmalige Chance jetzt nicht wahrnimmt und den Paragrafen 218 nicht abschafft. Das wäre problematisch.



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