Tausende Likes sind eine ganze Menge, dachte ich, als ich in meinem Bekanntenkreis von dem zwölfjährigen Kind hörte, das in einem sozialen Netzwerk einen herabwürdigenden Kommentar geschrieben hatte und hierfür mit massenhaft Lob überhäuft wurde. Plötzlich hatte es viele neue Onlinefreunde, deren gemeinsame Leidenschaft die digitale Schadenfreude war. Was wird das Kind aus dieser Episode gelernt haben über Recht und Unrecht? Wie wird sich das auf sein künftiges Onlineverhalten auswirken?

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In unserer Sprechstunde taucht regelmäßig die Frage danach auf, wie viel Handyzeit normal und wie viel ungesund sei. Der Kampf ums Smartphone, um Zugang zur Spielkonsole, Youtube, Tiktok wird in fast jeder Familie täglich neu ausgetragen. Was aber auch bei der öffentlichen Debatte über elektronische Medien nach meiner Einschätzung noch zu kurz kommt, ist die Moral.

Das Leben und wir

Der Ratgeber für Gesundheit, Wohlbefinden und die ganze Familie – jeden zweiten Donnerstag.

Von moralischem Empfinden befreite Räume

Dabei geht es mir nicht um das Verhalten der Jugend, sondern vielmehr um das fehlende Verantwortungsbewusstsein von Erwachsenen, die nicht verstehen oder nicht verstehen wollen, dass in sozialen Netzwerken von moralischem Empfinden befreite Räume existieren, die das Schlechteste im Menschen hervorbringen können.

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Es sind Orte, in denen Menschen andere Menschen ausgrenzen, beschämen, beschimpfen, gar zum Suizid auffordern können – sehr häufig ohne Konsequenzen für die Urheber und mit furchtbaren Folgen für Betroffene. Es sind Orte, an denen sich Erwachsene unter Vorspiegelung einer falschen Identität pro­blemlos Zugang zu Kindern und Jugendlichen verschaffen, Nacktfotos und Treffen einfordern. Orte, an denen „Challenges“ ausgetragen werden, die Kinder und Jugendliche zu hochriskantem Verhalten anstiften.

Auf Plattformen, die überwiegend von jungen Erwachsenen benutzt werden, verbreiten unzählige Accounts eine rechte Ideologie. Dazu gehört auch ein traditionelles Bild von Männlichkeit.

„Echte Männer sind Patrioten“: Wie extreme Rechte im Netz Jugendliche radikalisieren

Auf Social Media verbreiten sich traditionelle Männlichkeitsbilder. Für junge Menschen wirken sie als eindeutige und vermeintlich einfache Antworten auf Identitätsfragen. Doch sie bieten der extremen Rechten gute Möglichkeiten, Jugendliche zu radikalisieren.

Hate Speech, Rassismus, politische und religiöse Propaganda, Pornografie, Chauvinismus und Frauenhass sind für Kinder und Jugendliche ganz selbstverständlich abrufbar und für viele Teil der Alltagskultur geworden.

Sorge vor einem zivilisatorischen Rollback

Meine Sorge ist groß. Dabei geht es mir nicht um die Schulleistungen der heutigen Jugendlichen, die statt Hausaufgaben zu machen Tiktok-Videos schauen, sondern um die Sorge vor einem moralischen, ja zivilisatorischen Rollback, den man sich kaum ausmalen kann.

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Wie viel Handyzeit ist denn nun ungesund? Wie viele Stunden sind noch „okay“? Eine klare Antwort auf diese Frage ist nicht möglich. Zu viel hängt von Kindern und Jugendlichen selbst ab, von ihrer emotionalen Reife und ihrer Fähigkeit, Risiken gut abschätzen zu können und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen, aber auch von ihrem moralischen Empfinden und ihrem Sinn für Recht und Unrecht.

Was auf den Handys unserer Kinder geschieht, fällt am Ende in den Verantwortungsbereich von uns Erwachsenen. Es bleibt unsere Pflicht, genau hinzusehen, unbequem zu bleiben, die Gefahren nicht auszublenden. Es ist richtig, im Zweifelsfall ins Handy zu schauen und die App zu löschen, die einem Sorgen bereitet, oder einen Kontakt zu blockieren, der ein ungutes Bauchgefühl hinterlässt. Solange die Regulierung von digitalen Netzwerken durch den Staat nicht gewährleistet ist, bleibt sie wieder eine unbequeme, aber äußerst wichtige Elternaufgabe.

Oliver Dierssen ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Er engagiert sich als Autor, als Podcaster und in sozialen Medien für Kinder, Jugendliche und Eltern. Dierssen ist als niedergelassener Arzt in Gehrden tätig und lebt mit seiner Familie in der Region Hannover.



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