Rostock. Jeder kann nachfühlen, dass jemand, dem ein geliebter Mensch gestorben ist, verzweifelt wünscht, das geliebte Wesen aus dem Totenreich zurückzuholen. Doch es geht nicht: Niemand schafft so was, nicht mal der göttliche Orpheus der griechischen Mythologie, wie wir seit Platon wissen. Nur in der Oper „Orpheus und Eurydike“, die eine schöngefärbte Variante der griechisch-römischen Sage erzählt, wird das Unmögliche möglich: durch die alles überwindende Kraft des Gesanges.

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Aber nicht dieses berührende wie rätselhafte Märchen von Gluck, sondern eine völlig andere Geschichte erzählt Regisseur Rainer Holzapfel in seiner Neuinszenierung der Oper am Volkstheater Rostock. Nach der Premiere am Samstagabend gab es dafür acht Minuten heftigen Applaus, davon sechs Minuten als Standing Ovations.

Volkstheater Rostock wagt einen überraschenden Versuch

Überraschend ist dieser Rostocker Versuch und sehr zwiespältig: Auf der einen Seite stehen fragwürdige und platte Umdeutungen, auf der anderen Seite erweitert die hervorragende Ballettcompagnie (Choreographie Daniel Morales Pérez) den Horizont der Geschichte auf wirklich aufregende Weise.

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Und nachhallend bleibt natürlich die wunderbare Musik von Christoph Willibald Gluck, der darin seine damals (1762) neuen Prinzipien von Einfachheit, Wahrhaftigkeit und Natürlichkeit umsetzte. Präzise und sehr dynamisch musiziert die Norddeutsche Philharmonie, zelebriert diesen wehmütig-melancholischen Klang von Sehnsucht nach einem anderen Leben bzw. nach Leben überhaupt. Anrührend singen es die beiden Hauptsängerinnen Ekaterina Aleksandrova (Orpheus) und Lena Langenbacher (Eurydike), die zugleich als Mit-Akteurinnen ins Ballett eingebunden sind und durch die Tänzerinnen und Tänzer variantenreich gespiegelt werden. Und mit hörbarer Leidenschaft dirigiert Kapellmeister Eduardo Browne Salinas, der zwischendurch sogar noch vom Pult auf die Bühne eilt, um dort als virtuoser Sologeiger mit modernen Zwischenstücken von Mieczyslaw Weinberg eine intime Atmosphäre zu erzeugen.

Zerstörung des Mythos von „Orpheus und Eurydike“

Aber: Am Anfang dieses hundert Minuten kurzen Abends steht eine geradezu brachiale Zertrümmerung des Mythos selbst. Eurydike ist hier nämlich gar nicht gestorben, sondern wurde von zwei Schergen (grellblonde Perücken, schwarzglänzende Mäntel) verhaftet und weggeführt, weil sie offenbar Anführerin von Demonstrationen war. Diese Demonstranten sind – als Gruppenpantomime – die Mitglieder des Opernchors, die nach einer Demo ihr Siegfeier-Bierchen trinken. Und während Orpheus den Verlust seiner geliebten Eurydike beklagt und der Opernchor ihr „ödes Grabmal“ besingt, räumen sie betreten die leeren Bierflaschen vom „Grab“, das hier nur ein langer Tisch ist.

Auch in der Unterwelt geht es seltsam zu

Zum Text passt das natürlich gar nicht, und so klappert die Bild-Text-Schere durch den halben Abend. Statt Zurückholung von den Toten wird hier die Befreiung aus den Klauen eines diktatorischen Regimes gespielt. Fällt kaum auf, Italienisch versteht hier ja keiner, und die deutschen Übertitel sind, damit der Unfug nicht sichtbar wird, auf wenige und teils irreführende Sätze reduziert. Als beispielsweise am Ende Amor (Leila Schütz als kalt-freundliche Managerin eines Herrschaftssystems) eingreift und Orpheus vorm Freitod bewahrt, steht da oben: „Wird schon wieder.“

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Auch in der Unterwelt geht es seltsam zu: Als „Chor der seligen Geister“ gibt der Opernchor eine Bürokratenkompanie, neun Schreibtische, an denen neun Orpheuse (mit den Tänzern) als Bittsteller sich winden. Erstaunlich, dass diese beschlipste Bürokratenschar, eine uniformierte bunte Truppe mit naziblonden Perücken, grünen Hemden und orangefarbenen Hosen, dann doch Eurydike freigibt. Aber erstaunlich ist vieles an diesem Abend: Sehen Sie selbst!

OZ



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