Hupps, da war ihm das Wort rausgerutscht! “Wenn wir denn die Champions League erreichen, vielleicht überlegt er dann noch einmal”, sagte Stuttgarts Sportdirektor Fabian Wohlgemuth, als er nach dem 3:0 gegen Eintracht Frankfurt auf den Verbleib des Stürmers Serhou Guirassy angesprochen wurde. Wohlgemuth ist kurz davor, zum Sportvorstand befördert zu werden, aber noch ist er auf der Direktorenebene angesiedelt und somit der Amtsgewalt der Vorstandsetage unterstellt. Dass er für die Verwendung eines verbotenen Begriffs nun eine Sanktion empfängt, gilt unter Strafrechtsexperten allerdings als unwahrscheinlich. Champions League!

Unbemerkt von der Öffentlichkeit und ohne jeden Niederschlag in irgendeiner Tabelle hat der VfB Stuttgart bereits in der aktuellen Saison einen dritten Wettbewerb absolviert, neben Bundesliga und DFB-Pokal. Und auch in diesem dritten Wettbewerb – der möglichst kreativen Vermeidung des Begriffs “Champions League” – ist der VfB seit vielen Wochen ungeschlagen. Im Januar hieß es, man wolle mit der Herausgabe eines neuen Saisonzieles warten, bis man 40 Punkte auf dem Konto habe; im Februar, mit 40 Punkten auf dem Konto, wurde auf die Länderspielpause im März verwiesen; nach dieser wurde angeführt, man denke von Spiel zu Spiel.

Gelegentlich wurde der Trainer Sebastian Hoeneß bei der Wahrheit erwischt, er erklärte dann sinngemäß, dass ein neues Ziel niemandem etwas bringe, schon gar nicht seiner Mannschaft. Die schien sich tatsächlich sagenhaft wohlzufühlen in jenem gut geschützten Tunnel, in dem sich ohne Druck von draußen nach Herzenslust kicken ließ. Irgendwann haben die Reporter es aufgegeben zu fragen, was man schade finden kann, weil einige schöne Antworten somit ungesagt blieben.

So hätten die Stuttgarter zum Beispiel sagen können, dass sie erst mal 80 Punkte holen wollen und außerdem warten, bis die Jahrhundertbaustelle Stuttgart 21 fertig ist. Oder vielleicht, dass sie Kopfweh haben und nachher noch fahren müssen.

“Nach all der Scheiße / geht’s auf die Reise / Stuttgart international”, lautet der neue Gassenhauer

Der VfB könnte tatsächlich ein Ziel erreichen, das es gar nicht gibt und nie gegeben hat. Ungerührt von den nachmittäglichen Siegen der Konkurrenz aus Leipzig und Dortmund hat die Elf am Samstagabend eine Halbzeit lang ihren Stuttgart-Fußball aufgeführt, es ging gegen enorm ersatzgeschwächte Frankfurter zumindest in der ersten Halbzeit fast ein bisschen leicht. Die inzwischen stabil abrufbare Kunstform, sich mit kontrollierten und dann plötzlich scharfen Pässen durch keine Räume zu kombinieren, wurde anfangs gar nicht verlangt. Es standen genügend reizvolle Räume zur Verfügung, genüsslich genutzt von den Torschützen Serhou Guirassy (11. Minute), Deniz Undav (17.) und Jamie Leweling (37.) sowie ihren Vorbereitern Angelo Stiller und Undav selbst.

“Nach all der Scheiße / geht’s auf die Reise / Stuttgart international”, sangen die Fans in der Cannstatter Kurve noch, als das Stadion sich fast schon geleert hatte, und tatsächlich war diese recht lebensnahe Form von moderner Lyrik an diesem Abend faktisch wahr. “Ich glaube schon, dass die Fans, das Umfeld danach gelechzt haben, nach zehn Jahren daran wieder teilzunehmen”, sagte Sportdirektor Wohlgemuth und meinte den internationalen Wettbewerb als solchen. Die Teilnahme an der Gruppenphase der Europa League steht nach dem 3:0 gegen Frankfurt fest – mehr aber tatsächlich noch nicht, trotz der nach 29 Spieltagen wie fake news anmutenden Anzahl von 63 Punkten. Eine Ausbeute, die in den vergangenen Jahren stets für die Qualifikation zur, hupps, Champions League gereicht hätte; in der aktuellen Saison aber, sagt Sebastian Hoeneß, brauche man “verdammt viele Punkte” dafür.

Es wird also auch weiterhin mehr als eine kokette Spielerei sein, wenn die Stuttgarter das große Ziel eher andeuten als benennen. Trotz aller sicht- und belastbarer Fakten, die den VfB zurzeit als zuverlässiges Spitzenteam ausweisen, haben sie in Stuttgart immer noch das Gefühl, sich in einer Märchenwelt zu befinden, aus der sie den Branchenzynismus so lange wie möglich fernhalten wollen. So steckt ja in manch romantischem Bild zumindest schon die Andeutung des Gegenteils: Als die Kameras nach Spielschluss auf die Bank schwenkten und dort Deniz Undav und Serhou Guirassy beim schelmischen Mitbrummen des Klubgassenhauers ertappten (siehe oben), waren die gewaltigen Eisbeutel nicht zu übersehen, die sie sich an Knie und Oberschenkel hielten. Eine kleine Momentaufnahme – mit dem Potenzial, in einen größeren Rahmen zu passen.

Das Bild führt zu einer Wahrheit, die außerhalb des Märchens und auch neben dem Platz liegt. Ob Guirassy und Undav auch in der kommenden Saison noch gemeinsam in Stuttgart ihre Faxen machen, ist mindestens offen. Unter Guirassys 25 Saisontoren befand sich zehnmal der bahnbrechende Führungstreffer, und wie viele raffinierte Steilpässe der lässige Undav (16 Tore) nebenher noch so gespielt hat, entzieht sich vermutlich auch fortschrittlicheren Datenbanken – was die Frage aufwirft, wie viele Punkte der VfB wohl besäße, wenn die beiden häufiger in dieser Verfassung zusammengespielt hätten, ohne Blessuren und anderweitige Absenzen wie den Afrika-Cup.

VfB-Kapitän Waldemar Anton wirbt dafür, dass alle bleiben

So stehen Guirassy und Undav nun stellvertretend für beides – für das extreme Potenzial dieser Elf und für die Gefahr, dass es die Elf in dieser Zusammenstellung bald nicht mehr geben wird. Guirassy ist mit seiner Schnäppchenklausel von angeblich unter 20 Millionen Euro zum begehrtesten Stürmer des Planetensystems aufgestiegen, auch Chris Führich, Hiroki Ito, Enzo Millot oder Waldemar Anton wären aufgrund vertraglicher Nebenabreden für ähnliche Summen zu haben. Den aus Brighton geliehenen Undav könnte der VfB dank einer Option zwar ohne Fremdeinwirkung erwerben, aufgrund des aktuellen Erfolges allerdings für eine Summe, die an die 20 Millionen heranreichen soll. “Wenn man so wertgeschätzt wird, möchte man natürlich bleiben”, sagte Undaz später in eigener Sache – aber ob das dem Klub, bei dieser Summe, gelingt? Das, was der VfB auf dem Rasen so gerne ausübt (Kontrolle!), ist ihm über seine Mannschaft vorläufig entzogen – der Preis des Erfolgs, den der Sportchef Wohlgemuth unter anderem durch die schlauen Leihgeschäfte erst herbeiorganisiert hat.

“Wir sind eine unglaubliche Mannschaft und haben einen unglaublichen Teamspirit”, sagt der Kapitän Waldemar Anton, “das hinter sich zu lassen, ist nicht so einfach.” Deshalb sei er überzeugt, “dass jeder bleiben möchte”. Vorausgesetzt natürlich, man erreicht diesen einen Wettbewerb, für den es allein 18,5 Millionen Antrittsprämie gibt, diese Cham…

Aber pssst!



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