Aus dem grauen Himmel über dem Zentralen Omnibusbahnhof in Berlin fallen an diesem frühen Februarmorgen feine Tropfen. Das Dutzend Fahrgäste, das am Funkturm gerade in einen Flixbus klettert, ist noch nicht mal komplett zugestiegen, da breiten die ersten Männer auf der Ablage vor ihren Plätzen schon hohe Salamischeibenstapel und geschnittenes Brot vor sich aus.
Eine Dreiviertelstunde später ist der Bus auf der A12 Richtung Warschau unterwegs und rollt gen Osten. Mehrmals täglich verkehren die Fernbusse zwischen Deutschland und der Ukraine auf der Strecke Berlin-Kiew. Ein paar Fahrgäste schlafen, andere videochatten laut über plärrende Handylautsprecher, als seien sie allein.
Nur einer checkt still und konzentriert auf seinem Smartphone ukrainische Nachrichtenportale nach Neuigkeiten zum Krieg. Kräftige Statur, grau meliertes Haar, Jeans und Daunenjacke trotz 20 Grad im Bus: Der Mann ist an diesem Morgen der einzige Ukrainer, der in dem gut besetzten Reisebus auf dem Rückweg von Deutschland in sein Heimatland ist, das seit zwei Jahren unter dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg von Russlands Präsident Wladimir Putin leidet.
„Wir sind dem deutschen Staat sehr dankbar, dass er hilft“
Der freundliche Herr ist Bauingenieur, 63 Jahre alt und lebt in der Millionenstadt Odessa am Schwarzen Meer im Süden des Landes. Und er möchte nur Alexander genannt werden. „Ich komme gerade aus Hannover, wo ich meine Tochter und meine Enkelin besucht habe“, lässt Alexander mit Google Translate für den Reporter übersetzen.
Seine 40-jährige Tochter, berichtet der Mann aus Odessa weiter, sei mit der 15 Jahre alten Enkelin schon einen Monat nach Beginn des Krieges nach Deutschland geflohen. „Die beiden sind dort in einer Wohnung von einem befreundeten Anwalt untergekommen.“
Obwohl sie Wirtschaftswissenschaftlerin ist, sei es seiner Tochter bislang leider nicht gelungen, einen Job in Deutschland zu finden. „Sie lernt Deutsch, genau wie meine Enkelin, die in der 9. Klasse ist”, berichtet Alexander. Zwar bekommen beide Bürgergeld in Hannover. Doch das Geld sei insgesamt „knapp“. Dennoch: „Wir sind dem deutschen Staat sehr dankbar, dass er hilft. Und auch die Freunde und Bekannten unterstützen die beiden nach Kräften“, betont Alexander.
„Das mit dem Bürgergeld ist wirklich eine echte Schande”
Auf die Frage, ob er schon mal etwas davon gehört habe, dass einige seiner rund 700.000 ukrainischen Landsleute offenbar weiter Bürgergeld aus Deutschland beziehen, obwohl sie schon wieder in der Ukraine leben, reagiert der 63-Jährige verdutzt. „Nein, davon habe ich bislang wirklich noch nie etwas gehört. Ich kenne viele Menschen, die aus der Ukraine nach Deutschland geflohen sind. Aber das ist mir wirklich neu. Das mit dem Bürgergeld ist wirklich eine echte Schande. Kaum zu glauben, dass es Menschen gibt, die so etwas tun.“
In Deutschland sorgt derzeit der Bericht über eine vierköpfige ukrainische Familie für Aufregung, die nach einem Jahr in Schleswig-Holstein in die Ukraine zurückgekehrt war, ohne die deutschen Behörden darüber zu informieren. Dass die Familie auf diese Art rund 40.000 Euro an Sozialhilfe über Bürgergeld, Wohn- und Heizkostenzuschuss erhielt, flog erst auf, als sie nach einem weiteren Jahr dann wieder nach Deutschland zurückkehrte und ein Kind an einer Schule anmelden wollte.
Job-Center, Schulverwaltung und die Bundesagentur für Arbeit mussten nach Bekanntwerden des Falls eingestehen, dass die Behörden sich untereinander nicht informieren, wenn Leistungsempfänger plötzlich nicht mehr auftauchen, weil beispielsweise ukrainische Kinder nicht mehr in der Kita und in der Schule erschienen.
Hinzu käme die totale Überlastung der Jobcenter, die mit dem Ansturm nicht gerechnet hatten. Missbrauch des Bürgergeldes auf diese Art, so hieß es, sei daher nicht auszuschließen. Die Gastmutter der erwischten Familie berichtete, dass dies offenbar bereits ganz gezielt geschehe.
Alexanders Tochter und Enkelin seit Kriegsbeginn nicht mehr aus Deutschland in Ukraine zurückgekehrt
Alexander weiß davon nichts. Er berichtet, dass seine Tochter und die Enkelin aus der Ukraine geflohen seien, weil es für sie „viel zu gefährlich in Odessa ist“. Seit der Flucht nach Hannover sei sie bislang keine einziges mehr in ihre Heimat zurückgekehrt. Und darüber ist der Vater und Großvater sehr froh. Er selbst habe kurz vor dem Jahreswechsel wieder schwere Drohnenangriffe auf seine Heimatstadt Odessa erlebt. Mehrere Menschen wurden dabei getötet.
Alexanders Schwiegersohn kämpft gerade gegen Putins Truppen an der Front. Insgesamt seien aus dem Kreis seiner Familie sechs Angehörige an der Front eingesetzt. Ein Familienmitglied sei gefallen. Wer, sagt Alexander nicht. Zu tief sitzt der Schmerz bei dem Ukrainer.
Während die meisten anderen Fahrgäste aus den Busfenstern auf die Auenwälder und Weideflächen neben der Autobahn blicken, starrt der Bauingenieur wieder auf sein Handy. Er zoomt auf einer Landkarte auf ein Gebiet, das rot schraffiert und von roten runden Symbolen übersät ist.
Ob das die Gegend sei, wo der Ehemann seiner Tochter gerade kämpft? Alexander nickt nur flüchtig, öffnet hastig die Übersetzungs-App auf seinem Smartphone und tippt: „Darüber darf ich nicht reden.“
Vater passt auf die verlassenen Häuser seiner Familie auf
„Tochter und Enkelin“, sagt Alexander, „werden sofort in die Ukraine zurückkommen, sobald das Land wieder sicher ist.” Er selbst habe die beiden inzwischen fünf Mal seit Kriegsausbruch in Hannover besucht. Und er werde wiederkommen, bis der Krieg endlich vorüber ist, sagt Alexander.
„Bis dahin werde ich mich um die Wohnung der Familie meiner Tochter, um die Wohnung meines Bruders und die seiner Kinder in Odessa kümmern“, die ebenfalls aus der Ukraine geflohen sind – nach Warschau in Polen.
Was den Ukrainer abgesehen vom Kampfgeschehen an der Front und dem Schicksal seiner eigenen Familie aber am meisten zu schaffen macht, sei etwas anderes: „Ich bin inzwischen müde vor Sorge darüber geworden, dass der Westen immer stärker mit der Hilfe für die Ukraine zögert“. Alexanders größte Sorge: „Ohne diese Hilfe werden Putins Truppen noch mehr von der Ukraine einnehmen. Das wäre eine Katastrophe.“