Moskau. Signale, dass Russlands Präsident Wladimir Putin zum Dialog mit dem Westen und der Ukraine bereit sein könnte, gab es zuletzt des Öfteren. Im ersten Interview, das er einem westlichen Medienvertreter seit Beginn des russischen Feldzuges gegen die Ukraine vor gut zwei Jahren gegeben hatte, ließ er Anfang Februar gegenüber dem früheren Fox-News-Moderator Tucker Carlson Kompromissbereitschaft anklingen. Die Zeit für Gespräche über die Beendigung des Krieges sei gekommen – weil „diejenigen, die im Westen an der Macht sind, erkannt haben“, dass Russland nicht auf dem Schlachtfeld besiegt werden könne. „Wenn das so ist, wenn die Einsicht eingesetzt hat, dann müssen sie sich überlegen, was sie als Nächstes tun wollen. Wir sind zu diesem Dialog bereit“, hatte Putin damals betont.

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Ähnlich klang Putin phasenweise in der kurzen Rede nach seiner fünften Vereidigung zu Russlands Präsidenten am 7. Mai: „Russland verweigert sich dem Dialog mit dem Westen nicht“, sagte er nach Ableistung des Amtseids im Großen Kremlpalast. Der Westen habe die Wahl, ob er Russland weiter aggressiv begegnen und es eindämmen wolle. In jedem Fall werde Russland seinen Weg aber selbstbestimmt weitergehen.

Stille Angebote

Diese Äußerungen des russischen Präsidenten stießen in der westlichen Öffentlichkeit kaum auf Resonanz. Doch nun sorgen zwei Meldungen der „New York Times“ und der Nachrichtenagentur Reuters für große Aufmerksamt. Demnach sei Putin bereit, eine Vereinbarung zu erzielen.

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Mindestens seit September vergangenen Jahres, so die „New York Times“, habe Putin über inoffizielle Kanäle signalisiert, dass er für einen Waffenstillstand offen sei, der die Kämpfe entlang der gegenwärtigen Frontlinien einfriert, was weit hinter seinen ursprünglichen Ambitionen zurückbliebe, die Ukraine zu beherrschen. Das will die „New York Times“ von zwei ehemaligen hochrangigen russischen und dem Kreml nahestehenden Beamten erfahren haben. Gestützt würden diese Aussagen von amerikanischen und internationalen Beamten, die angeben, Schalmeienklänge von Gesandten Putins vernommen zu haben.

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Nach Angaben amerikanischer Beamter habe Putin bereits ein Jahr zuvor, im Herbst 2022, seine Fühler nach einem Waffenstillstandsabkommen ausgestreckt. Dieses stille Angebot, über das zuvor nicht berichtet wurde, sei erfolgt, nachdem ukrainische Truppen die russische Armee in größeren Gebieten im Nordosten des Landes in die Flucht getrieben hatte. Putin habe angedeutet, dass er mit den von Russland eroberten Gebieten zufrieden und zu einem Waffenstillstand bereit sei, schreibt die „New York Times“.

Kreml: „Die Thesen, die Sie vorbringen, stimmen nicht“

Eigentlich ist es erstaunlich, dass die angebliche Dialogbereitschaft Putins nun so große Wellen schlägt. Denn sie stammen aus zweiter Hand von anonymen Quellen, die nicht genannt werden wollen. Als Putin selbst im Februar und Anfang Mai öffentlich die Hand auszustrecken schien, wurden seine Aussagen hingegen kaum beachtet. Vielmehr überwog die Skepsis, es könne sich um eine Finte handeln, und der russische Präsident wolle etwa lediglich jene Fraktion im Westen protegieren, die sich für Verhandlungen ausspricht. Denn der öffentlich ausgetragene Streit mit den Befürwortern von Waffenlieferungen ließe sich so wohl leicht vertiefen.

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In der jetzigen Aufregung über Putins angebliche Bereitschaft für eine Waffenruhe geht auch unter, dass der Kreml den Bericht der „New York Times“ ausdrücklich nicht bestätigen will. Auf schriftliche Fragen des US-Blattes habe Putins Sprecher, Dmitrij Peskow, nachdem er eine Interviewanfrage abgelehnt habe, in einer Sprachnachricht geantwortet, dass „diese Thesen, die Sie vorbringen, nicht stimmen“. Auf die Frage, ob Russland zu einem Waffenstillstand an den derzeitigen Frontlinien bereit sei, verwies er auf die jüngsten Äußerungen des Präsidenten; Putin hatte in diesem Monat erklärt, die Kriegsziele Russlands hätten sich nicht geändert.

„Putin ist in der Tat zu Gesprächen bereit, und er hat dies auch gesagt“, habe Peskow geantwortet. „Russland ist weiterhin verfügbar, aber ausschließlich zur Erreichung seiner eigenen Ziele“.

Russland-Experte Gressel: „In erster Linie eine gesäte Finte“

Wie sehr ist dem Kremlchef tatsächlich an einem Waffenstillstand gelegen? Überhaupt nicht, glaubt der Osteuropa- und Russland-Experte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations: „Ich halte das in erster Linie für eine gesäte Finte“, sagte er in einem Interview mit den „Tagesthemen“ am Freitagabend. Russland gehe fest von einem eigenen Sieg Ende dieses Jahres oder Anfang kommenden Jahres aus. Dass der Kreml daher gar nicht im Geringsten an derzeitigen Verhandlungen interessiert sei, ergebe sich allein schon aus dem Umstand, dass die Grundthese der Reuters-Meldung falsch sei.

11.05.2024, Ukraine, Wowtschansk: Die 82-jährige Tetiana weint mit ihrer Tochter, als sie aus Wowtschansk gerettet wird. Ihr Ehemann wurde in ihrem Haus nach einem russischen Luftangriff auf die Stadt getötet. Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

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Die Nachrichtenagentur hatte in ihrem Bericht drei anonyme Quellen zitiert, die angaben, Putin sei sich im Klaren darüber, dass jeder neue größere Vorstoß eine weitere landesweite Mobilisierung erfordern würde, was er nicht wolle. Eine Quelle, die den russischen Präsidenten persönlich kennen soll, habe gesagt, seine Popularität sei nach der ersten Teilmobilisierung im September 2022 gesunken. Die landesweite Einberufung habe einen Teil der russischen Bevölkerung verschreckt und Hunderttausende von Männern im wehrfähigen Alter dazu gebracht, das Land zu verlassen. Umfragen hätten gezeigt, dass Putins Popularität um mehrere Punkte gesunken sei.

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Gressel hält die Aussagen der drei Reuters-Quellen für wenig stichhaltig: „In Russland ist man ganz weit von einer Mobilmachung entfernt. Man hat genügend Vertragessoldaten, die man in den Krieg schicken kann. Es werden nur sehr wenige Leute zwangsmobilisiert, und die Drohung, dass man Leute zwangsmobiliseren kann, die ja ganz bewusst gegen Oppositionelle und Protestierende ausgesprochen wird, die stabilisiert das Regime weit mehr als es ihm schadet, weil die Leute lieber zu Hause bleiben, und ihren Unmut eben nicht äußern, wenn sie Angst haben, als Bestrafung für eine Demo an die Front geschickt zu werden.“

Tatzsächich wolle der Kreml, so Gressel, das Gerücht im Westen säen, dass der Frieden und der Waffenstillstand nur ein paar Monate weg sei, und dass man sich die langfristige und die teure militärische Unterstützung der Ukraine doch schenken könne. So wolle sich Russland den Weg zum Sieg weiter bahnen.

Abwägende Analyse der „New York Times“

Diese Einschätzung klingt schlüssig, ist sie in ihrer Eindeutigkeit auch richtig?

Die „New York Times“ ist in ihrer Analyse abwägender. Einerseits lässt sie Stimmen zu Wort kommen, die die angebliche Verhandlungsbereitschaft Putins ebenfalls für einen Propagandatrick halten. Einige amerikanische Beamte hätten der Zeitung gesagt, dass es sich um einen altbekannten Versuch des Kremls handle, in die Irre zu führen. Es gehe nicht um eine echte Kompromissbereitschaft Putins. Die zitierten ehemaligen russischen Beamten hätten ihre Aussagen außerdem relativiert, betont die US-Zeitung. Der Kremlchef könne seine Meinung ihrer Auffassung nach durchaus wieder ändern, wenn der militärische Vorstoß Russlands in der Ukraine an Dynamik gewinne.

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Anderseits führt die US-Zeitung auch Argumente an, die dafür sprechen, dass die zitierten Quellen bei ihrer Einschätzung Putins richtig liegen könnten. „Während er von Russlands Ergebnissen auf dem Schlachtfeld und seiner historischen Mission, ‚ursprüngliches russisches Land‘ zurückzuerobern, besessen ist, möchte er, dass die meisten Russen ihr normales Leben weiterführen. Während er Russland auf einen jahrelangen Krieg vorbereitet, versucht er im Stillen deutlich zu machen, dass er bereit ist, ihn zu beenden“, schreibt die „New York Times“.

Belege für beide Thesen

„Er ist wirklich gewillt, bei den derzeitigen Positionen stehen zu bleiben“, habe einer der ehemaligen hochrangigen russischen Beamten dem Blatt gesagt. Der Ex-Offizielle habe allerdings hinzugefügt: „Er ist nicht bereit, auch nur einen Meter zurückzuweichen.“

Tatsächlich ist es wohl gewagt, sich allzu eindeutig festzulegen, was die Aussagen der von der „New York Times“ und von Reuters zitierten Quellen zu bedeuten haben. Blufft Putin nur, oder ist er wirklich verhandlungsbereit? Für beide Positionen lassen sich Belege finden. Dass der Kreml mit verdeckten Karten spielt, ist altbekannt. Andererseits ist es ein durchgängiges Merkmal des Putinismus, den Bürgerinnen und Bürgern größtmögliche Normalität zu suggerieren. Von dieser Linie wich der Kreml auch seit dem 24. Februar 2022 mit Ausnahme der Teilmobilisierung im September 2022 nicht ab. Eine lang anhaltende militärische Auseinandersetzung passt mit all ihren Unwägbarkeiten nicht zu dem gewohnten Gang, der der russischen Staatsführung in aller Regel am liebsten ist.

Im Februar 2022 ging Wladimir Putin sicher davon aus, dass er die Ukraine nach kurzem Feldzug beherrschen würde. Aber verfolgt er dieses Ziel nach mehr als zwei Jahren mit großen persönlichen Rückschlägen wie etwa dem kurzzeitigen Gesichtsverlust nach dem Söldneraufstand Jewgenij Prigoschins im Juni 2023 tatsächlich noch immer? Es mag so sein, aber es würde nicht zur bisherigen Regierungsführung des russischen Präsidenten passen, die in aller Regel davon geprägt war, Risiken zu minimieren und sich Optionen offen zu halten.



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