München – Rund 4,8 Millionen potenzielle Erstwähler dürfen zur Europawahl am 9. Juni ihre Stimme abgeben. Das sind laut einer Schätzung des Statistischen Bundesamts (Destatis) etwa eine Million mehr als beim letzten Wahlgang 2019. Der Unterschied: Heuer dürfen 16- und 17-Jährige mit an die Wahlurne. Die Frage, die den Politikern dabei unter den Nägeln brennt: Wie ticken diese jungen Menschen und wie gewinnt man ihre Aufmerksamkeit?

Eine aktuelle repräsentative Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) gibt darauf erste Antworten. Das Ergebnis: Die Daten zeigen, dass Menschen im Erstwähler-Alter die AfD als kompetenteste Partei in der Europapolitik sehen. Konkret denken 14 Prozent der 16- bis 22-Jährigen, dass die Rechtspopulisten die hilfreichsten Lösungen auf Streitfragen liefern. Unter allen Wahlberechtigten sind hingegen nur sechs Prozent dieser Ansicht.

KAS-Studie: Für 40 Prozent der Erstwähler ist die Europapolitik zu “komplex”

Damit ist die AfD unter jungen Bürgern – gleichauf mit der SPD – Spitzenreiter, wenn es um “Problemlösungskompetenzen” geht. Dahinter landen die Grünen mit 13 Prozent. Die Union kommt auf lediglich acht Prozent und schneidet damit bei Erstwählern deutlich schlechter als im Gesamtschnitt ab (22 Prozent). Weit abgeschlagen dahinter liegen die Linken (sechs Prozent) und die FDP (ein Prozent).

Bei der Umfrage hat das Meinungsforschungsinstitut Usuma in der zweiten Jahreshälfte 2023 mehr als 4000 Menschen ab 16 Jahren in Deutschland zur EU-Wahl telefonisch befragt. Was dabei auch herauskam: Trotz der hohen AfD-Zustimmung befürworten 81 Prozent der Erstwähler die EU-Mitgliedschaft. Sie sehen, dass die Gemeinschaft große Vorteile bietet (75 Prozent), und meinen, dass die EU näher zusammenrücken sollte (85 Prozent).

Ein weiterer auffälliger Wert: 40 Prozent der jungen Menschen halten die Europapolitik schlichtweg für zu komplex und 37 Prozent haben gar keine Antwort darauf, welche Partei Probleme am besten löst.

AfD erhielt bereits bei Landtagswahl bei jungen Bürgern hohen Zuspruch: “Weckruf für die europäischen Kräfte”

Für den Politikberater Johannes Hillje aus Berlin ist die Umfrage ein “Weckruf für die europäischen Kräfte”. Der Experte berät Parteien, Politiker, Unternehmen und Institutionen und war bei der Europawahl 2014 der Wahlkampfmanager der Europäischen Grünen Partei.

“Die AfD hatte bisher unterdurchschnittliche Wahlergebnisse unter jungen Menschen”, sagt er zur AZ. Trotzdem sei bereits bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen 2023 aufgefallen, dass die Partei große Zuwächse in der jungen Altersgruppe erzielen konnte. “Das war ein Zeichen, dass die AfD nun nicht nur die jungen Wähler erreicht, sondern sie zum Teil auch von sich überzeugen kann.”

Rechtspopulisten wollen EU-Parlament abschaffen: Wieso überzeugt die Partei trotzdem Jugendliche?

Wie die AfD das schafft? Laut Hillje durch einen Methodenwechsel in der Kommunikation. Von vermeintlichen “Lösungen” wie der im AfD-Parteiprogramm verankerten Abschaffung des EU-Parlaments und der Gründung eines “Bundes europäischer Staaten” mit einem gemeinsamen Markt und einer Zollunion sei im Austausch mit jungen Menschen oft keine Rede mehr. Stattdessen ginge es lediglich darum, wie die AfD die EU “reformieren” möchte.

“Die Partei hat erkannt, dass ein stark antieuropäischer Kurs ihnen bei der Stammklientel hilft, aber sie die Wählerschaft damit nicht ausbauen kann”, meint Hillje. Auch die Rassemblement National mit Marine Le Pen in Frankreich und die FPÖ in Österreich hätten ihre Tonart bereits verändert und einen ähnlichen Kurs wie die AfD eingeschlagen.

Politikberater: Die AfD erreicht mit ihrer Digitalstrategie deutlich mehr junge Wähler auf Tiktok

Dass die Partei überhaupt so viele Erstwähler erreicht, liegt für den Politikberater an ihrer Digitalstrategie im Internet. Über ein Jahr lang hat der Experte analysiert, wie oft Videobotschaften der Rechtspopulisten auf der Plattform Tiktok angeschaut werden.

Dabei liegt die AfD mit durchschnittlich 460.000 Aufrufen pro Video weit vor anderen Parteien. Die SPD kommt nur auf rund 72.000 und die Union auf knapp 57.000 Zuschauer.

Auch die Reichweite einzelner AfD-Politiker ist hoch: Spitzenkandidat Maximilian Krah kommt auf seinem persönlichen Tiktok-Auftritt auf über 40.000 Follower. Die Spitzenkandidaten Manfred Weber (CSU) und Ursula von der Leyen (CDU) sind hingegen noch nicht einmal auf der Plattform aktiv. Die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley hat “nur” knapp 5000 Abonnenten.

So viele Aufrufe erzielen die Parteien im Durchschnitt pro Video auf Tiktok. Die AfD liegt weit vorne.
So viele Aufrufe erzielen die Parteien im Durchschnitt pro Video auf Tiktok. Die AfD liegt weit vorne.
© Grafik und Analyse: Johannes Hillje
So viele Aufrufe erzielen die Parteien im Durchschnitt pro Video auf Tiktok. Die AfD liegt weit vorne.

von Grafik und Analyse: Johannes Hillje

“}”>

“Seit fast zwei Jahren kommuniziert die AfD auf Tiktok sehr viel”, beobachtet Hillje. “Die anderen Parteien haben nicht so ein koordiniertes digitales Vorfeld.”

AfD-Spitzenkandidat Maximilian Krah adressiert die Erstwähler im Internet direkt

Wie die Partei junge Menschen von sich überzeugen will, wird in Krahs Videos offensichtlich. In einem wendet er sich direkt an Jugendliche und Heranwachsende: “Jeder dritte junge Mann hatte noch nie eine Freundin. Du gehörst dazu? (…) Lass dir nicht einreden, dass du lieb, soft, schwach und links zu sein hast. Echte Männer sind rechts”, heißt es darin.

In einem anderen Beitrag erklingen Töne des Spitzenpolitikers, die Deutschlands Vergangenheit verharmlosen: “Unsere Vorfahren waren keine Verbrecher. Wir haben allen Grund, stolz auf unser Land zu sein und die Menschen, die es aufgebaut haben.” Junge Menschen sollten lieber herausfinden, “was Oma, Opa oder Uroma alles gemacht haben”, wo sie herkommen und wie sie “gekämpft und gelebt haben”.

Inszenierung und Setting in den Videos ähnelt der Aufmachung von US-Influencern

Die Inszenierung dieser Botschaften erinnert an umstrittene Influencer wie Andrew Tate aus den USA. Modern, hip und männlich sollen die Videos wohl wirken. Tate posiert unter anderem oberkörperfrei vor Autos, Krah tritt im Anzug in einem ästhetisch beleuchteten Raum mit Zigarre im Mund vor die Kamera.

Sein Ziel: laut Hillje zunächst mit privaten und apolitischen Themen Aufmerksamkeit zu gewinnen. “Und am Ende gibt es dann oft eine politische Empfehlung.”

Zu wenig Kommunikation mit jungen Menschen: Andere Parteien müssen im Internet aufholen

Dieses Beeinflussen und Prägen von Denkmustern mit provokanten, emotionalisierten Reizthemen und das Schüren von Feindbildern sei in der rechten Szene längst gängige Praxis. “Neben der Kommunikation der Partei gibt es eine unglaublich große, digitale Armee an Unterstützern, die als Content Creator eigene Videos produzieren und Botschaften weiterverbreiten. Die kommen teilweise aus dem Umfeld der Identitären Bewegung.”

Dabei handelt es sich der Bundeszentrale für politische Bildung zufolge um eine teilweise neu-rechte, extremistische und völkische Gruppierung, deren Aushängeschild lange Martin Sellner war.

Wie die anderen Parteien sich im Internet aufstellen müssen, um mithalten zu können? Der Politikberater empfiehlt die AfD-Strategie nicht zu übernehmen. Trotzdem müsse man an der Lebensrealität der jungen Menschen ansetzen. Auf Diensten wie Tiktok entscheide sich in einem Sekundenbruchteil, ob ein Video angeschaut wird oder nicht.





Source link www.abendzeitung-muenchen.de