Das Parlament in Seoul hat kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das das Schlachten von Hunden für den Verzehr unter Strafe stellt. Damit ging in dem Land eine jahrhundertealte Tradition zu Ende. Die Nachricht indes bestätigte auf der anderen Seite des Globus manchen in seinen Vorurteilen: Südkoreaner, eine Nation der Hundeesser? Wie so oft ist die Wahrheit komplizierter.
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Die Großstädte der Welt werden sich immer ähnlicher
Tatsächlich wurden in dem Land zuletzt Jahr für Jahr bis zu eine Million solcher auf Farmen aufgezogenen Tiere für den Verzehr getötet. Wer sich aber vor Ort zum Abendessen aufmachte, bekam davon in der Regel nichts mit – Hundefleisch galt in Asien seit jeher als Delikatesse und war deswegen schon immer sehr teuer und nur in speziellen Lokalen zu haben. Dass der Alltag in Seoul, Busan und anderen koreanischen Großstädten ansonsten dem von New York, Sydney oder Berlin immer ähnlicher wird, übertünchen solche Nachrichten leicht. Vorurteile beruhen meist auf Halb- oder Unwissen, und dies macht ferne Länder und Kulturen besonders anfällig dafür.
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Bereits der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) befasste sich mit dem Thema. „Solange also die Eitelkeit der menschlichen Gemüter noch mächtig sein wird, solange wird sich das Vorurteil auch erhalten“, erklärte er und fügte resignierend hinzu: „Das heißt, es wird niemals aufhören.“ Inzwischen befassen sich ganze Buchreihen und Internetblogs mit Stereotypen über ferne Länder – sei es Südkorea, Brasilien oder auch das gar nicht so weit entfernte Italien.
Urlaub 1960: Reisende mit VW Käfer am Gardasee in Italien.
Quelle: picture alliance / imageBROKER
Genau dort lernten die Deutschen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren eigentlich, Vorteile abzubauen: Als sie mit ihrem Käfer erstmals an die Adria fuhren, entdeckten viele, dass Italien mehr ist als Pizza und Eiscreme und dass Menschen auch jenseits des eigenen Umfelds nett sein können.
Tourismus auf der ITB in Berlin
Die in der nächsten Woche in Berlin beginnende weltgrößte Reisemesse ITB wird einmal mehr aufzeigen, wie etabliert der Tourismus inzwischen auch im hintersten Winkel der Welt ist. Sollte man also reisen, um Vorurteile abzubauen? Zumindest erleichtern Aufenthalte in anderen Ländern den berühmten Blick über den Tellerrand.
Tony Wheeler kennt die Welt wie kaum ein anderer. Der heute 77-Jährige gründete gemeinsam mit seiner Frau Maureen in den Siebzigerjahren die weltweit bekannte Reiseführermarke „Lonely Planet“. Und auch er erfuhr kürzlich den Einfluss des Reisens auf politische Entscheidungen, wie er auf Nachfrage erzählt: „Im vergangenen Jahr hatten wir in Australien ein Referendum zur Änderung der Verfassung, um die Ureinwohner Australiens durch die Schaffung einer Stimme der Aborigines und der Torres-Strait-Insulaner anzuerkennen – es war ein einfaches Ja oder Nein.“
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Tony Wheeler ist der Gründer von Lonely Planet und auch heute noch ein leidenschaftlicher Reisender.
Quelle: Tony Wheeler
Wheeler selbst sei zum Zeitpunkt des Referendums nicht in seiner Wahlheimat Australien gewesen, sondern in London, und habe deswegen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, dort abzustimmen. „Ich hatte das Gefühl, dass es mit überwältigender Mehrheit zu einem Ja kommen würde, wenn die Entscheidung von Australiern getroffen würde, die nicht in Australien waren“, erinnert sich der frühere Verleger. Wenig später musste er einsehen: „Leider waren die Australier außerhalb Australiens keine repräsentative Stichprobe der Australier im Allgemeinen.“ Das Referendum insgesamt ging zu Ungunsten der Ureinwohner aus.
Der US-Schriftsteller Mark Twain (1835–1910) stellte 1869 in seinem Reisetagebuch „Die Arglosen im Ausland“ fest: „Reisen schadet Vorurteilen, Bigotterie und Engstirnigkeit, und viele unserer Leute haben es aus diesem Grund dringend nötig.“ Der britische Autor und Philosoph Aldous Huxley (1894–1963) pflichtete ihm später bei: „Reisen bedeutet zu entdecken, dass jeder über andere Länder falsch liegt.“
Wer reist weiß, wovon er spricht
Forscher an der Northwestern University im US-Bundesstaat Illinois gingen Thesen wie diesen vor einigen Jahren auf den Grund. In Studien untersuchten sie den Einfluss von Reisen auf den Einzelnen. Sie befragten Studierende und kamen zu dem Ergebnis: Diejenigen, die eine größere Anzahl von Ländern besucht hatten, waren tendenziell vertrauenswürdiger. Der Besuch unbekannter und unterschiedlicher Orte schien ein Schlüsselfaktor zu sein. Die Forscher schlussfolgerten, dass diejenigen, die Orte besuchten, die ihrer Heimat weniger ähnelten, vertrauenswürdiger waren als diejenigen, die Orte besuchten, die ihrer Heimat ähnlicher waren. Anders ausgedrückt: Diejenigen, die die Welt gesehen hatten, wussten, wovon sie sprachen.
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Das hat, wie Forschungen immer wieder ergeben, konkrete Gründe: Reisen regt das Denken an, es kommt bisweilen zu neuen Erkenntnissen und originellen Lösungen – auch, wenn man längst wieder zu Hause ist. Ungewohnte Orte bieten zudem Inspiration, dies wiederum kann die Fähigkeit fördern, Zusammenhänge besser herzustellen. Überspitzt ausgedrückt: Wer immer nur zu Hause hockt, denkt weniger über das große Ganze nach. Das kann den einen oder die andere empfänglicher machen für die vermeintlich einfachen Antworten auf komplexe Sachverhalte.
Reisen ist keine Einbahnstraße
Auch Apps wie Instagram und Co. sind da trotz aller Weltgewandtheit nicht die Lösung: Fotos zeigen nicht immer die wahre Welt – erst recht nicht die der Influencer –, sie ersetzen kein Gespräch mit Menschen anderer Nationen in anderer Umgebung. Und die gibt es auf Reisen beinahe zwangsläufig: mit dem Tourguide, im Taxi, im Restaurant, im Geschäft. Vorausgesetzt, man verbringt den Urlaub nicht im abgeschotteten All-inclusive-Resort.
Das Ganze ist übrigens keine Einbahnstraße. Touristen können in ärmeren Staaten nicht nur zur Notwendigkeit einer gewissen Infrastruktur führen – die letztlich auch Einwohnern zugute kommt –, sie haben in der Vergangenheit zumindest indirekt andere zum Nachdenken angeregt. Als der spanische Diktator Francisco Franco zu Beginn der Fünfzigerjahre ein Tourismusministerium gründete, mag er damit vielleicht nicht das Ende seiner Herrschaft besiegelt haben; es schienen jedoch zumindest die Grundlagen dafür gelegt zu sein.
„Ab den Sechzigerjahren, insbesondere unter Tourismusminister Manuel Fraga Iribarne, setzte Spanien dezidiert auf die Förderung des Massentourismus“, erklärt die Historikerin Patricia Hertel in ihrem Essay „Ferien in der Diktatur“ beim Themenportal Europäische Geschichte. „Gleichzeitig hatte Fraga in seiner Funktion als Informationsminister die schwierige Aufgabe, den Fragen der kritischen Weltpresse über Zensur, politische Gefangene und Hinrichtungen Rede und Antwort zu stehen.“ Ein Dilemma, das ein Land nicht dauerhaft ignorieren kann, wenn es wirtschaftlich auf den Tourismus angewiesen ist.
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Von der Diktatur zum Urlaubshotspot: Ein Sommertag in Spanien, hier am Strand von Cala Major.
Quelle: Clara Margais/dpa
Das Regime Francos währte zwar noch bis zu dessen Tod 1975 – doch es stand zunehmend unter Druck, den Spanierinnen und Spaniern im Alltag immer weitere Freiheiten einzuräumen. Welcher Tourist will schon in ein Land reisen, in dem die Todesstrafe allgegenwärtig ist?
Aus Diktaturen werden Reiseländer
Ähnliche Entwicklungen gab es in Griechenland und Portugal, wo sich einstige Diktaturen zu Reiseländern entwickelten – und es gibt sie bis heute. Vietnam etwa öffnete sich 1986 für die Welt und erlebte seitdem einen kontinuierlich wachsenden Zulauf von Reisenden. Auch als Myanmar, das frühere Burma, Anfang der 2000er-Jahre vorübergehend einen Demokratisierungsprozess einleitete, kamen wenig später die ersten Besucherinnen und Besucher. Alles Neue in einer sonst touristisch umfangreich erschlossenen Welt übt einen ganz besonderen Reiz aus.
Auch Altverleger Tony Wheeler setzte in seiner Zeit bei „Lonely Planet“ gezielt auf die Macht der Reisenden. So veröffentlichte er unter anderem Reiseführer für solche Ziele, die ein durchschnittlicher Urlauber nie besuchen würde – etwa Myanmar in der Zeit des Militärregimes. „Wir haben den Band trotz der Militärregierung und trotz des Drucks, das Buch zurückzuziehen, weiterhin veröffentlicht“, erinnert er sich. „Und ich dachte, das sei das Richtige.“
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Die Staaten öffnen sich für Touristen
Während ein erneuter Militärputsch den sich anbahnenden Massentourismus in Myanmar 2020 im Keim erstickte, entwickeln sich die Märkte anderenorts. China setzte Ende des vergangenen Jahres die Visapflicht unter anderem für deutsche Staatsbürger aus, wohl nicht zuletzt, um in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wenigstens den Tourismus ausbauen zu können. In Hongkong versuchte die Regierung nach der Pandemie und einer Welle der Negativberichterstattung über das neue Sicherheitsgesetz sogar, Reisende mit Gratisflügen anzulocken. Selbst Saudi-Arabien öffnet sich – wenn auch bislang ohne nennenswerte innenpolitische Reformen.
Der viel gescholtene Massentourismus könnte so – trotz aller Umweltbelastung, Overtourism und weiterer negativer Auswirkungen – zumindest politisch etwas bewirken. Und sei es vielleicht nur, hier und dort Vorurteile abzubauen.