“Religiöse und staatliche Angelegenheiten sollen nicht mehr vermischt
werden”, erklärt der türkische Staatsgründer Mustafa Kemal vor einhundert
Jahren in einer Parlamentsrede. Die Republik ist zu diesem Zeitpunkt wenige
Monate alt, das Kalifat wurde gerade abgeschafft, der Islam bleibt aber weiter
Staatsreligion. Mustafa Kemal, dem später der Beiname Atatürk – “Vater der
Türken”
– gegeben wird, bereitet die neue Nation auf ihre neue Identität vor. 

Vier Jahre später ist es so weit: Am 9. April 1928 beschließt die türkische
Nationalversammlung eine Verfassungsänderung. “Die Religion des Staates Türkei
ist der Islam” wird ersatzlos gestrichen. Die Reform tritt einen Tag später in
Kraft. Seitdem ist der 10. April der “Tag des Laizismus”. Streng genommen
versteht man darunter die strikte Trennung von Staat und Religion, wie sie etwa
in Frankreich seit 1905 besteht. Atatürk soll sich an diesem Modell orientiert
haben. Aus dem französischen laïcité wurde das türkische laiklik. Seit 1937
steht das Wort im 2. Artikel der Verfassung. Der gilt noch heute zusammen
mit dem 1., 3. und 4. Artikel als unantastbare Grundlage der
Republik.

Trotzdem streiten die Türken seit jeher, was ihr Laizismus bedeuten soll.
Anders als in Frankreich gibt es in der Türkei keine strenge Trennung von
Religion und Staat. Schon 1924 wurde die Religionsbehörde Diyanet erschaffen.
Bis heute überwacht sie religiöse Angelegenheiten. Mit anderen Worten:
Türkischer Laizismus ist die Kontrolle des Staates über die Religion.  

Erdoğan hat das laizistische Militär entmachtet

“Atatürk hat keinen echten Laizismus gebracht”, erklärt deswegen der
islamistische Intellektuelle Abdurrahman Dilipak. Er wirft Atatürk vor, das
Religiöse in seine eigene Ideologie, die posthum mit dem Begriff Kemalismus
umschrieben wird, eingespannt zu haben. “Es ging ihm darum, die Religion zu
beherrschen und die Menschen zu manipulieren”, sagt Dilipak. Der Kemalismus
habe den Islam unterdrückt.

Schon zu Gründungszeiten wehrten sich strenggläubige muslimische Gruppen. Um
Unruhen entgegenzuwirken, versuchte Atatürk seinen Laizismus als Kompromiss zu
verkaufen: “Laizismus hat nichts mit Irreligiosität zu tun, sondern bietet die
Möglichkeit, dass sich wahre Religiosität entwickeln kann”, wird ihm als
Aussage aus dem Jahr 1930 nachgesagt. Doch der Druck wuchs mit den Jahren, mit der Folge, dass
säkulare Regierungen nach Atatürk Zugeständnisse machen mussten. Der Gebetsruf durfte
wieder auf Arabisch statt auf Türkisch ertönen und religiöse İmam-Hatip-Schulen
wurden eröffnet.

Als vor mehr als zwanzig Jahren der amtierende Staatspräsident an die Macht kam,
begann eine neue Ära für den türkischen Laizismus. Denn Recep Tayyip Erdoğan versteht
sich als Fürsprecher derer, für die Islam und Laizismus Gegensätze sind. Das
Kontrollkonzept des Laizismus half ihm dabei, islamische Werte unübersehbar im
öffentlichen Raum zu etablieren. Das Budget der Religionsbehörde Diyanet wurde
etwa stark aufgestockt. Heute hat es mehr Geld zur Verfügung als jedes
Ministerium. 

Unter Erdoğan wurde auch das Kopftuchverbot abgeschafft, das
laizistische Militär entmachtet, während flächendeckend İmam-Hatip-Schulen und
Moscheen eröffnet wurden. Über Zusammenarbeit mit Sekten im ganzen Land – deren
Existenz Atatürk zu seiner Zeit zumindest offiziell verboten hatte – sicherte
sich der Präsident über Jahre die Zustimmung von vielen Wählern.



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