Ein junges Paar tanzt. Die langen Haare der Frau reichen ihr bis zur Hüfte ihres schwarzen Kleides. Der Mann trägt einen dunklen Pulli, Jeans und Goldkette, seine Haare sind mit Pomade zu einer Locke frisiert. Beide hüpfen lachend im Kreis, halten sich an den Händen. Danach blicken sie in die Handykamera, die alles aufgezeichnet hat. Sie wirken glücklich. In den 15 Sekunden, die das Video dauert, steht über ihnen in schwarzen Buchstaben: „Wenn es in deiner Beziehung kein Drama gibt.“

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Unter dem Clip, der am 4. Juli 2021 auf Tiktok hochgeladen wurde, freuen sich die Followerinnen und Follower aber nicht für das Paar. Sie schreiben: „Der Beweis, dass du nicht alles glauben solltest, was du auf Social Media siehst“ und „Es ist so tragisch. Sie wollte doch einfach nur ihr Leben leben.“ Am häufigsten steht dort aber „Ruhe in Frieden“. Denn die junge Frau aus dem Video lebt nicht mehr. Sie wurde ermordet von dem Mann, der nicht nur ihr Partner, sondern auch ein aufstrebender TikToker war.

Impressionen von „Scarface“

Ali Abulaban, bekannt auf TikTok als JinnKid, war kurz vor dem Durchbruch auf der Plattform. Impressionen von Al Pacinos Rolle als Tony Montana in dem Gangsterdrama „Scarface“ brachten ihm Millionen Klicks. Gemeinsam mit seiner Frau Ana zog er nach San Diego, um seiner Karriere weiteren Aufschwung zu geben. Äußerlich, in der künstlichen Welt von Social Media schien alles zu laufen. Ein gemeinsames Kind, eine wachsende Followerschaft, der Umzug in eine große Stadt. Doch in der echten Welt gab es zwischen dem Vorzeigepaar vor allem eines: häusliche Gewalt, Drogen, eine turbulente Ehe kurz vor der Scheidung.

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Intimität aus der Ferne: Mit diesen Worten beschrieben US-Forscher in den 1950er Jahren das Phänomen der parasozialen Interaktion – das in Zeiten von Social Media seine größte Ausbreitung erreicht hat.

Meine Freundin, die Influencerin: Die Illusion von intimer Nähe

Ob Social-Media-Star, Nachrichtensprecher oder Schauspieler: Erscheinen uns Prominente vertrauter als die eigenen Nachbarn, spricht man von „parasozialen Beziehungen“. In seinem Essay fragt sich RND-Autor Timm Lewerenz: Was machen solche Bindungen mit uns? Und wann gehen sie zu weit?

Statt Social Media ist Abulabans Bühne jetzt der Gerichtssaal. Nicht mehr seine Handykamera filmt, sondern die des Youtube Kanals „Court TV“. In den USA sind anders als in Deutschland Kameras in Gerichtssälen prinzipiell erlaubt. Es wirkt geradezu wie Ironie des Schicksals, dass vor dem Gericht in San Diego nun die ungefilterte Wahrheit ans Licht kommen soll. Keine Bearbeitung, kein vorteilhaftes Zuschneiden von Videoausschnitten.

Der Prozess gegen Abulaban zeigt, wie beschränkt die Welt von Social Media doch ist, wie sie nicht die Wahrheit abbildet, sondern nur das, was Klicks bringt und vor allem gute Laune macht. Und er zeigt lehrbuchhaft, dass die Person, der die Gunst des Publikums zufliegt, nicht immer die ist, für die sie gehalten wird. Doch durch die sozialen Medien entsteht eine Nähe, Followerinnen und Follower meinen ihre Influencer zu kennen, ihnen nah sein zu können. In der Forschung nennt sich das „parasoziale Interaktion“.

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„Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so ist wie du“

Ein Video, das seine Frau Ana am 11. Dezember 2020 auf Tiktok hochlädt, zeigt kurze Schnipsel ihres Mannes, wie er ihre Tochter wiegt, in einem Club tanzt. Im Hintergrund läuft eine Tonspur: „Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so ist wie du. Und ich glaube, das werde ich auch nie wieder. Ich weiß, es klingt wie ein Klischee, aber niemand hat mich je so berührt wie du.“ Influencer haben ein Geschäft daraus gemacht, intime Einblicke ins Privatleben zu geben, verliebte Fotos aus dem Urlaub zu posten, dazwischen Reflexionen über Selbstzweifel und das Leid der Welt. Aber die Intimität besteht nur aus der Ferne, sie ist nur inszeniert.

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Kurz nach dem Paarvideo soll Ana eine einstweilige Verfügung eingereicht haben, wird es später im Gerichtssaal heißen. Immer wieder sollen sie sich versöhnt haben, es gibt viele E-Mails, die sich das Paar in der Zeit schickt. Dann im Oktober 2021 zerbricht die Ehe vollständig. Ali Abulaban zieht in ein nahegelegenes Hotel. Seitdem habe er sie gestalkt, auf dem Tablet ihrer Tochter eine App installiert, um Ana abzuhören. Anas und Alis Geschichte ist also nicht nur die eines Liebespaares, sondern auch von Eifersucht, Gewalt und Kontrolle. Neben Ana erschießt Ali Abulaban auch dessen Freund Ray, weil er ihn für die Affäre seiner Frau hält. Das alles filtert der Prozess zu tage.

Als er verurteilt wird, bricht im Saal Jubel aus

Aufnahmen aus dem gemeinsamen Leben waren für das Paar nicht nur für Tiktok Alltag. Im Gerichtsprozess laufen immer wieder Audioclips. Sie stammen von Videos der Überwachungskameras in ihrem Apartment, auch kurz bevor Abulaban sie tötet. Es fällt ein Schuss. Dann vier. Dann schreit eine Frau. Ein letzter Schuss. Abulaban läuft nervös aus der Tür, dreht um, murmelt, flucht und geht dann zurück in die Wohnung. Er telefoniert mit seiner Mutter, schickt ihr ein Foto seiner getöteten Frau und dessen Freund. Dann wählt er den Notruf und verlässt das Gebäude. Eine Tat aus Eifersucht, weil er dachte, sie habe ihn betrogen. Und eine Tat aus Machtgedanken, weil er dachte, sie gehöre ihm und sonst keinem. Das zeigt sich im Prozess, als er gefragt wird, ob Ana nach der Trennung eine neue Beziehung führen dürfe. Abulaban antwortet: „Auf gar keinen Fall.“

Die Reaktionen auf seine Tat kann JinnKid nicht mehr auf Social Media nachlesen. Er sitzt seit dem Doppelmord im Oktober 2021 im Gefängnis. Was die Menschen in der Welt des Internets über ihn denken, muss er aber nicht mehr nachlesen. Er kann es auch in der echten Welt, im Gerichtssaal, zu spüren bekommen.

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Als die Jury ihn in allen Anklagepunkten des vorsätzlichen Mordes für schuldig befindet, bricht im Saal Jubel aus. Es sind Freunde und Verwandte der Opfer, die den Prozess begleitet haben. Das Urteil sei eine Befreiung und Gerechtigkeit für Ana und Ray, wird ihre beste Freundin danach sagen. Ana habe Ali immer vor ihren Freundinnen verteidigt. „Weil sie das Gute in ihm sehen wollte“, sagt sie unter Tränen. Ali Abulaban droht eine lebenslange Haft ohne Aussicht auf eine frühere Haftentlassung. Sein Tiktok-Account ist mittlerweile deaktiviert. Auf dem seiner Frau sammeln sich täglich weitere Beileidsbekundungen.



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