Von homosexueller Selbstverleugnung handelt das Stück „Tom auf dem Lande“. Das Stadttheater Bremerhaven bringt es etwas zu pathetisch.

Zwei Männer sitzen einander gegenüber in einer Wellblechbaracke

Im Normalitätbunker: Tom auf dem Lande Foto: Manja Herrmann

BREMERHAVEN taz | Homosexualität ist immer noch ein großes Drama. In vielen gesellschaftlichen Milieus ist sie nicht im jeweiligen Normenkanon beheimatet und scheint Menschen in ihrem Selbstverständnis herauszufordern. Homosexuelle werden daher jeden Tag zu Opfern, „beleidigt, ausgegrenzt, vergewaltigt, verspottet, gedemütigt, verletzt, geschlagen, heruntergemacht, besudelt, isoliert, verhöhnt“.

Das schreibt der kanadische Dramatiker Michel Marc Bouchard im Vorwort zu seinem 2011 in Montreal uraufgeführten Schauspiel „Tom à la ferme“ („Tom auf dem Lande“). Um diese Behandlung zu vermeiden, heißt es da weiter, lernten Homosexuelle noch vor dem Lieben – das Lügen, die Selbstverleugnung. Keinen Deut weniger aktuell geworden ist all das, wenn nun, 2024, Bouchards Stück am Stadttheater Bremerhaven zur Premiere kommt.

Ensemblemitglied Frank Auerbach inszeniert den Stoff antidiskriminierungswillig mit vier Kolleg:innen. Der dafür notwendige Normalitätsbunker ist auf der Bühne ein hinreichend trostloser Wellblechverschlag. Den betritt Tom (Justus Henke) – als wäre er in einen Horrorfilm gestoßen worden.

Mit Schreckensmimik und gehetztem Blick stellt er sich als parfümierter Mitarbeiter einer Werbeagentur vor. Aus der nahen Großstadt ist Tom auf die Farm der Familie seines kürzlich verstorbenen Freundes Guillaume gekommen, um bei dessen Beerdigung dabei zu sein. Dort trifft er auf Guillaumes Mutter Agathe (Isabel Zeumer), die nichts von der Homosexualität ihres Sohnes weiß.

Kampf um die Fassade

Und auf dessen Bruder Francis (Karsten Zinser), der mit aller Gewalt dafür kämpft, dass das so bleibt: Es gilt, das konformistische Familienimage zu retten, bloß niemanden zu verstören. Heteronormativität soll Sara (Anna Caterina Fadda) simulieren, wurde sie doch extra von den Männern engagiert, um die angebliche Freundin des Verstorbenen zu mimen.

Dramatisch eindrücklich macht der Autor die nun folgenden Lügengeschichten erlebbar. Henkes Tom steht immer etwas unbeholfen schräg in der ländlichen Fremde und denkt wie ein urbaner Poet in Richtung Publikum, was er von der Situation gerade hält. Er reflektiert sein Verhalten, spricht über Trauer und Einsamkeit, hechelt auch mal Erinnerungen an Sex mit seinem Freund – und wechselt immer wieder zu den Worten, die er gegenüber Francis und Agathe tatsächlich äußert.

Höflich verlogen in Sachen schwules Leben: Bald bindet Tom sich einen schäbigen Schlips um, so wie Francis einen trägt; ganz konkret und symbolisch bringt der Binder ihn beinahe zum Ersticken – in der von Bigotterie befeuerten Schuldgemengelage dieses Stücks.

Aber die beiden Männer kommen sich näher – in der kruden Abhängigkeit einer SM-Beziehung. Zinser spielt Francis als schmierhaarig-virilen Brutalo mit herausfordernd offenem Mund und sonorer Stimme, schwingt den aggressionsgeschwollen hochgereckten Körper hin und her, hat immer einen Faustschlag oder Würgegriff in petto und erwähnt mit Ekel die Männerzeichnungen, die sein Bruder hinterließ.

Emotionstosend stürzen sich Francis und Tom auf jedes Wort ihres Textes

Francis ist der härteste Homophobiker weit und breit, weil er eben selbst verklemmt schwul ist: so die ihrerseits etwas klischeehafte Enthüllungsgeschichte. Jedenfalls schwärmt der Junge vom Lande von jenem aus der Stadt, den er „Mädchentaille“ ruft, als er ihn zärtlich Kühe melken sieht.

Francis setzt Tom aber auch immer wieder körperlicher Gewalt aus, Demütigung und Machtdemonstration, was dieser genauso genießt wie die Hilfsarbeiten auf dem Hof. Ach, das einfache, das wahre Leben! Schon tanzen beide miteinander, starren sich an – und Kuss.

Francis und Tom sind exzessiv aufgepumpt mit Wut, Hass, Liebe, Ängsten, Schmerz und so weiter, sodass sie sich emotionstosend auf jedes Wort ihres Textes stürzen. Das Ergebnis sieht manchmal aus wie eine Parodie des Method Acting der 1950er-Jahre, denken wir an Marlon Brando in „A streetcar namend desire“. Für die Momente, in denen ihnen die Fasson komplett verloren geht, hat die Requisite acht Autoreifen auf die Bühne gelegt, die herumgeschleudert werden dürfen.

Erstaunlich ist, wie wenig nur sich die Erotik der Anziehung, das flackernde Begehren zwischen den beiden Mannsbildern im Unterhemd vermittelt. Im Gegensatz zu ihnen beeindruckt Zeumers Agathe durch die zärtliche Melancholie ihrer Zurückhaltung: Leise verträumt, auch schon mal am Rande des Dementen, sucht sie nach Wahrheit – und, vielfach ratlos, den richtigen Gefühlen für ihr Bemühen, sich den Konventionen entsprechend zu verhalten.

Bis Tom dann die Schnauze voll hat vom Versteckspiel mit seiner Identität im Gefängnis des normierten Lebens: Er reißt die Wände des Bühnenbilds aus ihrer Verankerung. Homosexualität ist ein Drama – in Bremerhaven ein arg pathetisches.

Weitere Vorstellungen: 29. 2.; 8. + 13. 3.; 12. + 26. 4.; 2. 5., Stadttheater Bremerhaven



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