Kurz vor 15 Uhr herrschte das letzte Mal Stille auf dem Center Court. Taylor Fritz schlug auf, der Ballwechsel ging los, und als Jan-Lennard Struff die Chance sah, griff er an. Der erste Überkopfball saß noch nicht, aber der zweite. Er platzierte den Ball rechts im Eck, unerreichbar für den Amerikaner, der ein Name ist im Tennis, Fünfter der Weltrangliste war er, derzeit ist er 15., aber in aufsteigender Form. Der 7:5, 6:3-Sieg von Struff bei den BMW Open in München war jedoch in diesem Moment zementiert. Jubelnd streckte der 33-Jährige aus Warstein, nun mindestens so bekannt wie das dortige Bier, die Arme. Kurz darauf herzten ihn diverse Gratulanten, seine Freundin Madeleine, mit der er zwei kleine Jungs hat, sein ewiger Physio und Athletiktrainer Uwe Liedtke, sein Doppelpartner Andreas Mies, mit dem er im Anschluss sein zweites Finale zu bestreiten hatte; die beiden verloren dann knapp mit 6:7 (6), 6:7 (5) gegen Yuki Bhambri (Indien)/Albano Olivetti (Frankreich) – das Double blieb ihm verwehrt.

Es war das Turnier von Struff, der die Rolle des deutschen Frontmanns übernahm

Elf Jahre musste Struff seit seinem ersten Match auf der ATP Tour 2013 ausharren, 217 Turniere spielen, ehe er im 218. seinen ersten Einzeltitel auf der Tour gewann (vier Doppeltitel hat er errungen). Drei Finals hatte er zuvor erreicht und verloren, 2021 in München sowie 2023 in Madrid und Stuttgart. “Ich habe so lange darauf gewartet”, sagte Struff, “das ist verrückt. Vor deutschen Fans zu gewinnen, bedeutet mir sehr viel.” Bei der Siegerehrung zollte ihm Taylor Fritz Respekt, “du hast unglaublich gespielt in dieser Woche”; der Kalifornier klang niedergeschlagen, er hatte seinerseits seinen ersten Titel auf Sand herbeigesehnt.

Bei seiner Rede wurde Struff immer wieder heftig beklatscht. Natürlich erhielt er noch die obligatorische Lederhose. Und als das Siegerauto (Kaufpreis für Nichtsieger 99 500 Euro), das er auch sein Eigen nennen darf, vor ihm stand, sagte er trocken: “Ja, ich bin happy.” Warum lange reden, wenn in Kürze alles gesagt ist? So ist dieser beliebte Sauerländer eben.

Es war definitiv das Turnier von Struff, der die Rolle des deutschen Frontmanns in prächtiger Weise übernahm, nachdem sich die eigentlich eingeplante Hauptbesetzung vor dem Wochenende verabschiedet hatte. Alexander Zverev, bekanntlich der seit Jahren beste Profi des Landes, hatte eine abwechslungsreiche Woche in München verbracht. Wobei er beim Rahmenprogramm in Summe einen besseren Eindruck hinterließ als auf dem Platz. Mal wieder – zumindest ist seine sportliche Bilanz seit 2018, als er zum zweiten Mal in München nach 2017 reüssiert hatte, ja eher bescheiden in Bayerns Landeshauptstadt.

In der Vergnügungswertung punktete Zverev diesmal am Montag bei der Players-Party, am Dienstag mit einer launigen Pressekonferenz, am Mittwoch als Zuschauer beim Champions-League-Spiel des FC Bayern gegen den FC Arsenal und am Samstag mit dem eigenen 27. Geburtstag. In der ATP-Wertung scheiterte Zverev indes gleich an seinem zweiten Gegner, er verlor gegen den Chilenen Cristian Garín und hinterließ ein Statement, das aufhorchen ließ: “Wenn wir in den nächsten Jahren bei vier Grad und Regen und Wind spielen werden, würde ich davon ausgehen, dass ich das Turnier nicht wieder gewinnen werde.” Die weiße Fahne prophylaktisch zu hissen, das war erstaunlich für einen Profi seines Ranges.

Von dem Weltuntergangswetter konnte er nicht genug bekommen

Wie ein Gegenentwurf wirkte da Struff, der kein bisschen über das für alle geltende Weltuntergangswetter seit Montag klagte, sondern gar nicht genug davon bekommen konnte, auf dem durchnässten Center Court zu spielen. Bemerkenswert waren vor allem jene 24 Stunden ab dem späten Freitagnachmittag. Im Regen erspielte sich Struff bis zum Abbruch wegen Dunkelheit eine 7:5, 3:1-Führung gegen den Kanadier Felix Auger-Aliassime, um am Samstagvormittag diese Partie erfolgreich (7:5, 6:4) zu beenden. Dann überrollte er den Dänen Holger Rune, den München-Sieger der vergangenen zwei Jahre, in 45 Minuten mit 6:2, 6:0 und ließ im Anschluss den Halbfinalsieg im Doppel mit Mies folgen. Bundestrainer Michael Kohlmann erzählte mal, dass er stets mit Freude Struff anrufe, wenn er ihn wieder zu einer Davis-Cup-Partie einlade. Struff sage dann stets nur: “Geil, wann geht’s los?” So einer ist er.

Und genau so spielte er gegen Fritz, zupackend, unerschrocken, mit Gier und Mut. Bei 4:5 wehrte Struff drei Satzbälle ab, schaffte umgehend das Break, nahm also Fritz dessen Aufschlagspiel ab und servierte zum 7:5 souverän aus. Im zweiten Satz gelang ihm das frühe Break zum 1:0. Es nieselte weiter vor sich hin (Bayern-Profi Thomas Müller fieberte als Zuschauer mit), aber Schiedsrichter Fergus Murphy unterbrach die Partie nicht. Auch ein Netzroller glückte Struff, es war nicht Sonntag, es war Strufftag. Bei 5:2 verpasste er es, mit eigenem Aufschlag auszuservieren, Fritz kam auf 3:5 heran, doch Struff hielt dem Druck stand und konterte mit dem Break zum 6:3. Die Jubelarie begann.

Trotz der Wetterkapriolen während der Woche – es gab von Sonne bis Hagel, Regen und Schnee alles im Angebot – konnten die Turnierveranstalter beste Zuschauerzahlen verbuchen. An neun Tagen war das Event ausverkauft (insgesamt 47 500), nun steht eine Zäsur an. Ab 2025 werden die BMW Open aufgewertet und steigen von der 250er in die 500er-Kategorie auf, der Sieger erhält dann also 500 Weltranglistenpunkte. Damit sind sie zwar nicht gleich so bedeutsam wie ein Grand-Slam-Turnier – so wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder im Sky-Interview sprach, konnte man fast glauben, die BMW Open würden nun alle anderen Turnierklassiker überholen. Aber etwas Besonderes ist diese Entwicklung schon. “Sportlich gesehen haben wir schon seit mehreren Jahren 500er-Niveau. Somit ist der Schritt in die Zukunft ein wichtiger”, sagte Turnierdirektor Patrik Kühnen. Das Preisgeld wird von gut 600 000 Euro auf mehr als 2,5 Millionen Euro steigen, ein provisorischer neuer Center Court ist geplant. Fabian Tross, der Vorsitzende des MTTC Iphitos, versprach trotz neuer Turnierdimension: “Wir wollen größer werden, aber familiär und bodenständig bleiben.”



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