Nicht nur mit ihrer Kampagne »Liefern am Limit« bei Lieferando hat die Gewerkschaft NGG viele Mitglieder dazugewonnen.

Nicht nur mit ihrer Kampagne »Liefern am Limit« bei Lieferando hat die Gewerkschaft NGG viele Mitglieder dazugewonnen.

Foto: dpa/Christoph Soeder

Die Gewerkschaft Nahrungsmittel Genuss und Gaststätten (NGG) hat laut Angaben ihres stellvertretenden Vorsitzenden, Freddy Adjan, mit über 400 Arbeitskämpfen ein Rekordjahr hinter sich. Vor allem im Osten haben viele Beschäftigte gestreikt. Und erstmals seit Jahren verzeichnete die NGG auch nach Abzug der Abgänge einen Mitgliederzuwachs. Was verbirgt sich hinter der Erfolgsgeschichte?

Einen Eindruck davon vermittelt der Tarifstreit bei Vielfalt-Menü, einem Caterer für Kitas und Schulen und sozialen Einrichtungen in der kleinen ostsächsischen Ortschaft Kesselsdorf nahe Dresden. Das Unternehmen macht einen Jahresumsatz von rund 65 Millionen Euro und beschäftigt annähernd 950 Arbeiter*innen, die sich auf bundesweit 35 Filialen verteilen. Keine idealen Bedingungen für erfolgreiche Gewerkschaftskämpfe.

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Und doch hat es die NGG hier geschafft, nach monatelangen zähen Auseinandersetzungen einen Tarifvertrag für den Standort auszuhandeln, erzählt Betriebsrätin Janet Lätzsch im Gespräch mit »nd«. Sie arbeitet seit gut zehn Jahren in dem Unternehmen und ist dort seit sieben Jahren als Betriebsrätin aktiv. Der neue Vertrag sieht für ungelernte Produktionsmitarbeiter eine Lohnerhöhung von 50 Cent auf 12,93 Euro vor. Fachkräfte erhalten bis Januar 2025 sogar eine Steigerung um mehr als 13 Prozent auf 15,30 Euro.

Der erfolgreiche Tarifabschluss ist bemerkenswert, vor allem für den Osten. Da sind Niedriglöhne nach wie vor weitverbreitet, auch wenn ihr Anteil dort schneller zurückgeht als im Westen. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken Bundestagsabgeordneten Susanne Ferschl hervor.

Das hat auch damit zu tun, dass die Tarifbindung niedrig ist. Vor zwei Jahren waren nur 45 Prozent der Betriebe im Osten tarifgebunden, wie aus Zahlen des Statistischem Bundesamtes hervorgeht. Im bundesweiten Durchschnitt betrug die Quote 52 Prozent. Zwanzig Jahre zuvor hatte sie noch bei 70 Prozent gelegen.

Dem konnte die NGG im vergangenen Jahr etwas entgegensetzen, auch bundesweit. Allein in der Lebensmittelindustrie hat die Gewerkschaft nach eigenen Angaben rund 200 Tarifverträge ausgehandelt. Viele davon haben kurze Laufzeiten von 12 bis 14 Monaten. Das ist vorteilhaft für Gewerkschaften. Denn im Zuge der Tarifauseinandersetzungen und Streiks gewinnen sie oft viele neue Mitglieder, wie auch im ostsächsischen Kesselsdorf, berichtet Betriebsrätin Lätzsch.

Die Tarifabschlüsse und erhöhte Streikbereitschaft sind einerseits durch die hohen Reallohnverluste und den Arbeitskräftemangel der letzten Jahre bedingt, erklärt Sozialwissenschaftler Peter Birke im Gespräch mit »nd«. Er forscht an der Universität Göttingen zu Streikbewegungen und industriellen Beziehungen. Andererseits sind sie auch das Resultat eines Strategiewechsels bei den Gewerkschaften. Sie setzen vermehrt auf konflikt- und beteiligungsorientierte Konzepte wie Organizing. Damit werden die Beschäftigten an der Basis verstärkt in die gewerkschaftliche Willensbildung einbezogen.

»Der Schlüssel zum Erfolg ist es, nicht über die Beschäftigten zu verhandeln, sondern mit ihnen für sie«, sagt Uwe Ledwig dazu im Gespräch mit »nd«. Der Vorsitzende des NGG-Landesbezirks Ost ist verantwortlich für die Länder Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. »Es ist anstrengend und kostet Kraft, die Leute mitzunehmen und sie einzubeziehen.« Doch es lohnt sich, zeigt er sich überzeugt.

Daneben hat sich die NGG kämpferischer aufgestellt. Mit seiner Amtsübernahme im Jahr 2018 habe Ledwig das bis dahin eher partnerschaftlich wirkende Modell im Osten demonstrativ aufgekündigt, erzählt er. Seitdem kommt es häufiger zu Konflikten, vor allem bei Haustarifverträgen. Als Häuserkampf wird der Ansatz in Gewerkschaftskreisen bezeichnet. Die Folge sind mehr Verhandlungs- und Streiktage.

Das ist keine von langer Hand geplante Strategie, erklärt Ledwig gegenüber »nd«. Denn grundsätzlich seien auch für die NGG Flächentarifverträge besser. Aber man habe sich an die Realitäten in der Branche anpassen müssen. »Wenn in den Tarifverhandlungen immer der Kleinste vorgeschoben wird, um das Leid der Unternehmen zu beklagen, funktioniert es nicht«, kritisiert der Gewerkschafter. Dadurch seien zu viele Branchen- und Flächentarifverträge an den schlechtesten Bedingungen orientiert gewesen.

Nach dem Strategiewechsel zum sogenannten Häuserkampf bestimme nun nicht mehr der schwächste Betrieb die Arbeitsbedingungen. Vielmehr könne die Gewerkschaft verstärkt jene Belegschaften unterstützen, »die nach vorn gehen wollen«, sagt Ledwig. Das entfalte eine Strahlkraft auf andere Unternehmen, auch darum hätten viele Beschäftigte im Osten erstmals gestreikt. Der Gewerkschafter berichtet von einem neuen Mut unter den Arbeiter*innen.

Versteckt sich dahinter ein zukunftsweisendes Erfolgsrezept? Laut Sozialwissenschaftler Birke nicht unbedingt. »Es gibt ein paradoxes Verhältnis von Stärke und Schwäche«, erklärt er. Einerseits seien die Streiks Ausdruck einer neugewonnenen Kraft. Der sei aber eine lang anhaltende Krise der gewerkschaftlichen Organisierung vorausgegangen. »Die NGG ist gerade dabei, Betriebe zurückzugewinnen, die in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen sind«, sagt Birke. Teils ginge es auch um Branchen, in denen Unternehmen schon lange gewerkschaftsfeindliche Strategien wie Union Busting angewendet haben.

Und bemerkenswert sei im Vergleich zu vorangegangenen Streikzyklen, dass die Konflikte kaum politisiert werden – nicht allein bei der NGG. Ein übergreifendes Bewusstsein bei den Beschäftigten, dass ihre Kämpfe zusammenhängen, lässt sich nur ausnahmsweise beobachten, sagt Birke. Viele Streiks fänden isoliert statt. Darum sei es schwer, Prognosen für die künftige Entwicklung zu formulieren.

Die ist auch bei Vielfalt-Menü im ostsächsischen Kesselsdorf unklar. Denn die Lohnerhöhungen sind mit 13 Prozent zwar insbesondere für die Fachkräfte beachtlich. Aber eine Angleichung an das Lohnniveau im Westen ist damit nicht erreicht, das weiterhin im Schnitt annähernd 14 Prozent höher liegt. Vor dem Hintergrund hatte die NGG vor einigen Jahren ihre Kampagne »Die Lohnmauer einreißen« gestartet und auch bei Vielfalt-Menü höhere Löhne gefordert. Die sollen dort nun in der nächsten Tarifverhandlung durchgesetzt werden, sagt Betriebsrätin Lätzsch selbstbewusst.

Auch in diesem Jahr will die NGG an ihre Erfolge anknüpfen. Doch ob sich dabei ein neues solidarisches Handeln bei den Beschäftigten entwickelt, wird davon abhängen, ob es neben dem gewerkschaftlichen einen politischen Aufbruch gibt, nicht nur im Osten.

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