Er wünsche sich eine „fromme Jugend“, proklamiert Recep Tayyip Erdogan seit Jahren. Jetzt kommt der türkische Staatschef seinem Ziel einen großen Schritt näher. Mit Beginn des neuen Schuljahres im September wird schrittweise an allen Schulen in der Türkei ein neuer Lehrplan eingeführt. Ziel sei es, Kinder zu heranzuziehen, die „gehorsam, produktiv, patriotisch und fromm“ seien, sagte Erdogan bei der Vorstellung des Programms. Es werde neue Unterrichtsfächer „über den heiligen Koran und das Leben des Propheten“ geben, kündigte der Staatschef an. Erziehungsminister Yusuf Tekin erklärte, der neue Lehrplan basiere auf „türkischen Werten“ und „den wegweisenden Moralvorstellungen“ der Regierung.

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Lehrergewerkschaften haben für diesen Dienstag zu Protesten aufgerufen. Die Lehrpläne stünden im Widerspruch zu dem weltlichen, wissenschaftlichen und demokratischen Bildungsauftrag. „Wir rufen alle auf, für die Rechte und die Zukunft unserer Kinder zu kämpfen“, schrieb der Vorstand der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen auf X. Man brauche ein religiöses Wörterbuch, um den neuen Lehrplan zu verstehen, sagt Kadem Özbay, der Vorsitzende der Gewerkschaft. Das Curriculum habe zum Ziel, „eine seelenlose Roboter-Generation heranzuziehen, die nicht denkt, keine Fragen stellt, nicht kritisiert, nicht widerspricht oder interpretiert“. Die Gewerkschaft kritisiert unter anderem, dass der Lehrplan für das Fach Biologie die göttliche Schöpfung in den Mittelpunkt stellt und die Evolution als eine „unbewiesene Theorie“ nur am Rande erwähnt. Murat Emir, stellvertretender Fraktionschef der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP, wirft der Regierung vor, sie wolle dem Land „ihre eigenen ideologischen Besessenheiten“ aufzwingen.

ARCHIV - 16.11.2022, Indonesien, Nusa Dua: Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türke. (zu dpa: «Erdogan: Netanjahu provoziert regionalen Konflikt») Foto: Kay Nietfeld/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Die Jagd geht immer weiter: Wie Erdogan seine Gegner verfolgt

Die Türkei ist ein polarisiertes Land. Nach der überraschenden Niederlage der Regierungspartei bei den Kommunalwahlen Ende März fürchten Oppositionelle, dass Staatschef Recep Tayyip Erdogan jetzt den Kurs gegen seine Kritiker weiter verschärft.

Erdogan: „Niemand stellt sich zwischen Kinder und religiöse Werte“

Sogar in der Vorschulerziehung hat die Islamisierung Einzug gehalten. In einem Kindergarten in der Provinz Sakarya wurden die Kinder im März während des Fastenmonats Ramadan gezwungen, bis zum Mittag zu fasten. Vorschulkinder sollen nach einem im vergangenen Jahr in Kraft gesetzten Protokoll der Religionsbehörde Diyanet und des Erziehungsministeriums auch lernen, wie man bei einem Begräbnis angemessen seine Trauer zeigt und wie man mit einem Messer ein Opfertier schlachtet, um das Wohlgefallen Allahs zu erlangen.

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Erdogan verteidigt den neuen Lehrplan. „Wir werden es nicht zulassen, dass sich jemand zwischen die Kinder dieses Landes und die religiösen Werte stellt“, sagte er am vergangenen Freitag. „Die Zeiten, als Kinder diskriminiert wurden, weil sie beteten oder Kopftücher trugen, sind vorbei“, so der Staatschef.

Herbe Niederlage für Erdogan: Opposition holt wichtige Bürgermeisterämter

Bei den Kommunalwahlen in der Türkei hat die AKP um Präsident Recep Tayyip Erdogan deutliche Niederlagen erlitten.

Erdogan wettert gegen LGBT-Bewegung im Land

Der neue Lehrplan solle die „Werte der Familie“ vermitteln, sagte Erdogan. Das ist eines der Lieblingsthemen des türkischen Staatschefs. Erdogan führt seit Jahren einen Feldzug gegen Schwule, Lesben und transsexuelle Menschen. Die LGBT-Bewegung zersetze die Gesellschaft und sei zu einer „Tyrannei und Unterdrückung geworden, die selbst den Faschismus übertrifft“, sagte Erdogan laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu vergangene Woche nach einer Kabinettsitzung. Auch außenpolitisch birgt der Lehrplan Sprengstoff: An den Schulen soll künftig die Doktrin von der „Blauen Heimat“ gelehrt werden. Sie besagt, dass die östliche Hälfte der Ägäis mit griechischen Inseln wie Rhodos, Kos, Chios und Lesbos zur Türkei gehört.

Erdogan regiert mit seiner islamisch-konservativen Partei AKP die Türkei seit mehr als 21 Jahren, zuerst als Regierungschef und seit 2014 als Staatspräsident. In diesem Amt hat er in den vergangenen Jahren immer mehr Kompetenzen an sich gezogen und das Parlament weitgehend entmachtet. Kein Politiker seit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der das Land seit der Ausrufung der Republik 1923 bis 1938 führte, hat die Türkei so stark geprägt wie Erdogan. Atatürk setzte die Trennung von Staat und Religion durch. Erdogan sieht den Islam als eine alle Lebensbereiche durchdringende Staatsreligion.

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Studie: Wunsch nach Leben im Ausland

Aber bei den Kommunalwahlen Ende März erlitt der sieggewohnte Präsident eine schwere Schlappe. Seine AKP landete landesweit erstmals seit 20 Jahren nur auf dem zweiten Platz hinter der Oppositionspartei CHP. Ein Grund für das Wahlergebnis war die horrende Inflation von rund 70 Prozent, die immer mehr Menschen in die Armut treibt. Aber auch Erdogans zunehmend autoritärer Regierungsstil und seine islamische Agenda stoßen auf wachsende Widerstände. Vor allem viele Menschen in den Großstädten fühlen sich in ihrem westlichen Lebensstil bedroht und von der Regierung bevormundet. Seit der Kommunalwahl ist die türkische Gesellschaft tiefer gespalten denn je. Vor allem immer mehr junge Türkinnen und Türken sehen in ihrer Heimat keine Zukunft mehr. Nach einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung vom vergangenen Jahr möchten 63 Prozent der 18- bis 25-Jährigen lieber im Ausland leben.

Die meisten nennen Deutschland als ihr Wunschziel. Das spiegelt sich auch in den Zahlen türkischer Asylbewerber und Asylbewerberinnen, die in Deutschland Schutz suchen. Im vergangenen Jahr waren es nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge 61.181. Das waren 155 Prozent mehr als im Jahr davor (23.938). Im Vergleich zu 2021 hat sich die Zahl sogar mehr als verachtfacht. Migrationsforscher sehen einen Zusammenhang mit der Wiederwahl Erdogans im Frühjahr 2023. Sie hat offenbar vielen Menschen die Hoffnung auf eine Demokratisierung endgültig genommen. Aussichten auf Asyl haben in Deutschland allerdings nur die wenigsten. Die Anerkennungsquote lag im vergangenen Jahr nur bei etwa 15 Prozent.



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