Xi Jinping hat die Volkrepublik umgekrempelt. Seine Ideologie hat mit dem Historiker Steve Tsang erstmals ein unabhängiger Wissenschaftler analysiert
taz: Herr Tsang, Xi Jinping ist einer der mächtigsten Politiker weltweit, aber erst jetzt – über zehn Jahre nach seinem Amtsantritt als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas – gibt es eine unabhängige Buchpublikation über seine politische Ideologie. Warum?
Steve Tsang: Um die Gedankenlehre Xis zu verstehen, muss man schließlich sämtliche seiner Reden und Schriften durchforsten – das ist quälend langweilig und herausfordernd. Aber es ist auch wichtig, und deshalb haben wir es getan.
Selbst innerhalb Chinas gibt es trotz unzähliger Forschungsinstitute kaum einen Experten, der Xis Lehre verständlich auf den Punkt bringen kann. Das erinnert bisweilen an die nordkoreanische Propaganda des Kim-Regimes: Diese ist über weite Strecken dazu gedacht, möglichst diffus zu sein – damit sie eben nicht konkret überprüfbar ist.
In Xis Fall ist dies nicht so – im Gegenteil. Er will, dass man sich mit seiner Lehre auseinandersetzt und sie annimmt. Das Problem der unzähligen Institute und Forschungszentren in China ist, dass sie alle politisch korrekt sein müssen. Sie sind geradezu hagiografische Studien Xis. Unser Buch hingegen versucht in klaren Worten herauszuarbeiten, was die Bedeutung und die Implikationen von Xis Gedankenlehre tatsächlich sind – mit all ihren Widersprüchen und Problemen. Wir haben uns keine Gedanken gemacht, ob es Xi gefallen würde oder nicht. In China könnte sich dies kein Forscher erlauben.
1959 in Hongkong geboren, leitet das China-Institut der School of Oriental and African Studies in London. Zusammen mit Olivia Cheung hat der Historiker im Januar die erste Buchpublikation über Xi Jinpings politische Ideologie vorgelegt („The Political Thought of Xi Jinping“, erschienen in „Oxford University Press“).
Am Montag endet Chinas Nationaler Volkskongress in Peking. Die einwöchige Tagung des Scheinparlaments stand im Zeichen der angeschlagenen Wirtschaft. Einen mutigen Reformentwurf hat die Parteiführung nicht vorgelegt, sondern Signale der Stabilität. Premier Li Qiang ordnete ein ambitioniertes Wachstumsziel von „rund fünf Prozent“ an. Die Steigerung des Militäretats fiel mit 7,2 Prozent hoch aus, blieb aber im Rahmen der Erwartungen.
Erstmals seit über drei Jahrzehnten wird der Premier keine Abschlusspressekonferenz geben. Dies war stets eine seltene Gelegenheit für die Medien vor Ort, dem Regierungschef kritische (wenn auch meist vorher eingereichte) Fragen zu stellen. Damit schließt sich nicht nur ein weiterer Informationskanal, sondern vergrößert sich auch Xi Jinpings Macht weiter: Die mediale Aufmerksamkeit möchte Chinas mächtigster Führer seit Mao Zedong offenbar mit keiner „Nummer 2“ teilen. (kret)
Welche biografischen Ereignisse haben Xis politische Bildung geprägt?
Der Kollaps der Sowjetunion und der Niedergang des Kommunismus in Osteuropa waren Ereignisse, die sehr großen Einfluss auf seine Denkweise hatten. Das erste, was Xi nach seinem Amtsantritt 2012 sagte, war: Die große Tragödie der heroischen KPdSU sei es gewesen, dass – als Michail Gorbatschow die Ränge der Partei aufstieg – niemand der Kader Manns genug war, gegen den Verräter vorzugehen und ihn zu verhaften. In seiner Amtszeit würde Xi das nicht passieren.
Das ist aber nur eine Dimension. Was am stärksten aus seiner Gedankenlehre hervorgeht, ist das schiere Ausmaß seiner Ambition. Er versucht in niemandes Fußstapfen zu treten, sondern möchte ein wahrlich transformativer Führer sein, der China gemäß Marx zum gelobten Land führt. Seine Idee, China wieder groß zu machen, der Traum der „chinesischen Verjüngung“, geht weit über das hinaus, was sich Staatsgründer Mao Zedong in seinen wildesten Träumen ausgemalt hat.
Was meinen Sie damit?
Mao sprach auf dem Höhepunkt seiner Macht während des „Großen Sprungs nach vorn“ davon, dass China das Vereinigte Königreich übertreffen und dann versuchen würde, mit den USA gleichzuziehen. Xi geht es nicht um die USA. Er will Chinas Vormacht in der Welt erlangen und es zu seiner wahren Größe führen.
Verlangt er dafür die totalitäre Teilnahme aller Bürger? Oder kann man unter ihm in China noch passiven Widerstand leisten?
China ist ein Riesenland mit 1,4 Milliarden Menschen. Selbst mit fast 100 Millionen Mitgliedern der Kommunistischen Partei und all den digitalen Technologien, die sie zur Verfügung hat, ist es ein schwieriges Unterfangen, alle auf Linie zu bringen. Es ist vor allem eine Frage, wie lange Xi noch an der Macht bleiben wird. Je länger er an der Macht bleibt, desto eher wird er sein Ziel erreichen können. Diejenigen, die sich nicht an seine Lehre anpassen, werden entweder im Gefängnis landen oder China verlassen. Aber davon sind wir noch entfernt.
Jahrzehntelang beruhte in China der Gesellschaftsvertrag darauf, dass die Bevölkerung im Gegenzug für wirtschaftliche Entwicklung ihre politischen Rechte an die Partei abtritt. Xi hat diesen Vertrag nun umgeschrieben.
Aus seiner Sicht hat er ihn verbessert. Es geht nicht mehr nur um hohe Wachstumsraten, sondern auch darum, dass die Menschen stolz darauf sind, Chinesen zu sein. Und es geht darum, die Wirtschaft eine innovative Technologiebasis zu geben und die Kluft zwischen Superreichen und Superarmen zu verringern. Aber hier müssen wir sehr genau hinschauen: Xi versucht nicht wirklich, soziale Gerechtigkeit im marxistischen Sinn zu schaffen.
Tatsächlich spricht Xi sehr offen aus, dass er einen Wohlfahrtsstaat nach europäischem Vorbild ablehnt, weil dieser die Arbeiter „faul“ machen würde. Warum diese Ablehnung?
Xi ist nur dem Namen nach Marxist, in Wirklichkeit ist er durch und durch Leninist. Ein Marxist konzentriert sich in erster Linie auf soziale Gerechtigkeit und auf Umverteilung. Einem Leninisten geht es vorrangig um Kontrolle. Daran ist Xi am meisten interessiert. Er interessiert sich nicht für das Wohlergehen des einzelnen Individuums, sondern für das Wohl des Volk als Ganzes, das von der Kommunistischen Partei vertreten wird.
Welche Rolle sollen Privatunternehmen in Xis Welt spielen?
Er ist nicht per se gegen Privatunternehmen, solange sie patriotisch sind – also mit den chinesischen Traditionen, wie Xi sie definiert, übereinstimmen und der Kommunistischen Partei und ihrem obersten Führer gegenüber absolut loyal sind. Private Unternehmen, die all diese Kriterien erfüllen, sind also in Ordnung – das sieht man etwa bei Huawei. Doch vor die Wahl gestellt zwischen Privat- und Staatsunternehmen zieht Xi stets letztere als Stütze von Chinas Wirtschaft vor.
Sie argumentieren, Xi betrachte auch seine Außenpolitik vor allem unter dem Aspekt, ob sie der Kommunistischen Partei nützt. Möchte er die westlich dominierte Weltordnung stürzen?
Da müssen wir klar unterscheiden: China möchte nicht die USA als globalen Hegemon ersetzen. Xi bemüht sich aber, die liberale internationale Ordnung umzugestalten – in eine sinozentrische Weltordnung, in der China die herausragende Weltmacht darstellt. Wenn die USA dies akzeptieren, dann wird Chinas Regierung kein Problem mit ihnen haben. Aber wenn sie sich weigern, sich Chinas Vormachtstellung zu beugen, ist das eine andere Sache. Ob China diese Ambition erreichen kann, ist aber ein großes Fragezeichen.
Der Erfolg der KP beruhte seit der wirtschaftlichen Öffnung stets darauf, dass sie auf lokaler Ebene sehr pragmatisch war und sich immer wieder neu erfunden hat. Unter Xi ist die Partei eine andere geworden. Gefährdet er die Stabilität des Systems?
Kurz- bis mittelfristig stärkt Xi die Regierungsfähigkeit der KP. Längerfristig jedoch wird er die Nachhaltigkeit des Systems schwächen. Hier kommen wir zu einem weiteren wichtigen Teil seiner Änderungen: dass er nämlich die kollektive Führung an der KP-Spitze durch die Herrschaft eines einzigen Mannes ersetzt hat. Vom Tiananmen-Massaker 1989 bis hin zu Xis Amtsantritt 2012 hat die Partei keinen einzigen politischen Fehler gemacht, der ihre Existenz grundsätzlich gefährden würde. Das lag vor allem daran, dass die kollektive Führung es den Politikern erlaubte, hinter verschlossenen Türen robuste und offene politische Diskussionen zu führen. Seit Xi aber die Führungsspitze in eine Echokammer verwandelt hat, sehen wir erhebliche politische Fehler – von den „Null Covid“-Maßnahmen über die Hongkong-Politik bis zum Sturz führender IT-Firmen.
Als absoluter Kontrollfreak scheint es nur logisch, dass Xi nicht bis an sein Lebensende regieren, sondern eine Nachfolge in seinem Sinne sichern will. Wird ihm das gelingen?
Xi hat noch nie darüber geredet oder überhaupt zugelassen, dass seine Nachfolge institutionalisiert wird. Was so bemerkenswert an seiner Gedankenlehre ist: Sie reicht stets bis 2049, dem 100-jährigen Bestehen der Volksrepublik China. Er hat sich aber nicht dazu geäußert, was danach geschehen soll. Jetzt ist Xi 70 Jahre alt, 2049 wird er 95 sein. Ob er dieses Alter erreicht, weiß ich nicht. Aber es gibt keine Anzeichen, dass er sich mit seiner eigenen Sterblichkeit auseinandersetzt.