Auf ihrer ausgestreckten Hand winden sich gelbliche Würmer in einem matschigen Futterbrei. Schon beim bloßen Anblick dürfte so mancher angewidert den Mund verziehen. Doch Jane Lind Sam ist da routiniert. Es kitzle ein bisschen, sagt sie zu den zwei Dutzend Larven auf ihrem Latexhandschuh. „Aber sie beißen nicht.“

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Nachdem die Larve sich verpuppt, wird aus ihr einmal eine Schwarze Soldatenfliege, ein Zweiflügler aus der Familie der Waffenfliegen (die so heißen, weil ihr Aussehen an Uniformen erinnert). Doch so weit lassen es Sam und ihr Team meist nicht kommen. Denn die Laven sind viel wertvoller, sie enthalten verhältnismäßig viel Protein in ihren winzigen Körpern. Das macht sie zu einem der vielversprechendsten Zuchttiere des 21. Jahrhunderts.

Die Larven werden in einem feuchten Futterbrei genährt.

Die Larven werden in einem feuchten Futterbrei genährt.

Abhängigkeit von Sojaimporten – und schlechte Klimabilanz

Bislang ist Europas Landwirtschaft abhängig von Eiweißimporten aus Übersee, vor allem aus Nord- und Südamerika. Doch für das eiweißhaltige Sojaschrot, das Schweinen, Hühnern, Rindern ins Futter gemischt wird, werden teils Regenwaldflächen abgeholzt, es muss auf langen Schiffsrouten transportiert werden. 3,4 Millionen Tonnen Soja importierte Deutschland 2022, um die sogenannte Eiweißlücke von 18 Prozent zu schließen. 82 Prozent des Proteinbedarfs werden auf heimischen Äckern erwirtschaftet. Doch das reicht nicht. Insekten gelten als mögliche Lösung, als Tierfutter der Zukunft.

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Im Gegensatz zu etwa Rindern verbrauchen sie im Durchschnitt nur ein Viertel der Futtermenge, um ein Kilogramm Fleisch aufzubauen. Ihr essbarer Anteil ist teils doppelt so groß, sie brauchen viel weniger Platz und Wasser, sie fressen nahezu alles und sind zudem noch in ihrer Haltung – mit Verlaub – eher anspruchslos. Werden sie regional gezüchtet, haben sie einen bis zu 50 Prozent kleineren CO₂-Fußabdruck im Vergleich zum herkömmlichen Tierfutter wie Soja oder Fischmehl. Doch während Experten weltweit einen Insektenboom erwarten, ist die Nachfrage in Deutschland noch zurückhaltend. Verpasst die deutsche Wirtschaft einen Milliardenmarkt?

In einer Fabrik im dänischen Flemming, Ostjütland, glauben sie jedenfalls fest an dieses Geschäft. Auf 26.000 Quadratmetern hat Jane Lind Sam Nordeuropas größte Insektenfabrik gebaut, die Enorm Biofactory. Perspektivisch sollen hier einmal 100 Tonnen Larven produziert werden – pro Tag. Anfang Dezember feierte Sam zusammen mit ihrem Vater Carsten, der einst als Schweinezüchter begann, Eröffnung. Doch bis die Fabrik voll ausgelastet ist, wird es noch bis etwa Mitte des Jahres dauern. Im Moment läuft der Betrieb in der Pilotphase.

500 Ställe sind in den Industriehallen in Flemming, nahe der Stadt Horsens, aufgebaut.

500 Ställe sind in den Industriehallen in Flemming, nahe der Stadt Horsens, aufgebaut.

Die wichtigsten Mitarbeiter sind schon zu Hunderttausenden vorhanden. In 500 schlauchförmigen Ställen schwirren die Soldatenfliegen unter grünlichem UV-Licht umher. Es riecht faulig-süß, die Hallen sind mollig warm, so wie es die Insekten mögen. Jedes Weibchen legt bis zu 1200 Eier ab, nach zwölf Tagen Lebenszeit werden die Larven verarbeitet. Als Futter dienen etwa Gemüsereste oder Permeat, eine Flüssigkeit, die beim Entzug von Fetten und Proteinen aus Milch entsteht und als Abfallprodukt vom Molkereiriesen Arla geliefert wird.

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In der Fabrik werden die allermeisten Schritte automatisch ablaufen, Greifarme die schwarzen Futterkästen mit den Larven auf Laufbänder setzen, bis sie den Tod in einem Wassertank bei 90 Grad finden und anschließend zu Insektenmehl oder -öl verarbeitet werden.

Die Schwarze Soldatenfliege hat es am liebsten warm bei Temperaturen um 30 Grad.

Die Schwarze Soldatenfliege hat es am liebsten warm bei Temperaturen um 30 Grad.

Bisher hat die EU acht Insektenarten für die Tierfutterproduktion zugelassen, darunter der Mehl- und Getreideschimmelkäfer oder die Steppengrille. Die fingerkuppengroße Schwarze Soldatenfliege sticht dabei als eine Art Superinsekt hervor. Das liegt daran, dass sie nahezu alles verwerten kann: von Bioabfällen bis Fäkalien. Somit ist sie prädestiniert für die Kreislaufwirtschaft.

Als Jane Lind Sam vor etwa zwölf Jahren zum ersten Mal von der Soldatenfliege las, staunte sie über das Potenzial eines Tieres, „das fähig ist, sogar aus Mist Nährstoffe zu produzieren“. Doch erst als die EU 2017 Insekten als Bestandteil von Fischfutter zuließ, machten Vater und Tochter Ernst. 2018 begannen sie mit ersten Planungen für die Ställe, sprachen mit Zulieferfirmen über die notwendige Technik. Insgesamt sammelten sie mit ihren Partnern rund 75 Millionen Euro ein.

In der Enorm Biofactory sollen bald 100 Tonnen Larven pro Tag produziert werden.

In der Enorm Biofactory sollen bald 100 Tonnen Larven pro Tag produziert werden.

EU-Markt: 650.000 Tonnen bis 2030

Die Aussichten verbesserten sich weiter, als 2021 auch Schweine und Hühner wieder mit tierischem Protein gefüttert werden durften. 1994 hatte die EU dies wegen der BSE-Krise verboten. Für Rinder gilt das Tabu weiterhin. Inzwischen sind riesige Insektenfabriken in den Niederlanden und in Frankreich entstanden. Der europäische Lobbyverband der Insektenindustrie geht davon aus, dass die jährliche Produktion von Insektenproteinen in Europa bis 2030 um das 70-Fache auf rund 650.000 Tonnen steigen wird. Neben Landwirten gelten vor allem Futterproduzenten für Hund und Katze als Abnehmer.

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In Deutschland sieht der Markt noch recht dezent aus. Eine der größten Anlagen befindet sich im sächsischen Pegau, wie in der dänischen Enorm-Fabrik werden hier Fliegenlarven herangezogen, jedoch auf einer etwa zehnmal so kleinen Fläche. Daneben gibt es deutsche Anbieter, die vollautomatische Mastanlagen mit Larven verkaufen, sodass Bauern diese selbst füttern und heranziehen können. Eine dieser Firmen ist Farminsect, das sich laut „Handelsblatt“ als größten Insektenproduzenten Deutschlands bezeichnet und bislang mehr als 10 Millionen Euro Kapital einsammelte. In Frankreich warben Insektenfirmen teils Gelder von einer halben Milliarde Euro ein.

Solange Sojaprotein spottbillig ist, wird sich alternatives Insektenprotein kaum behaupten können.

Andreas Vilcinskas,

Professor am Institut für Insektenbiotechnologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen

„In Deutschland sind wir noch etwas zurück, da sind andere Länder weiter“, sagt Andreas Vilcinskas, der als Professor am Institut für Insektenbiotechnologie in Gießen lehrt, wo eines der wichtigsten Forschungszentren für Entomologie entstanden ist.

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Vilcinskas sieht in Tierfutter aus Mehlwurm oder Schwarzer Soldatenfliege einen Wachstumsmarkt, nicht nur aus ökologischen Gründen, sondern auch, weil sich das Insektenprotein positiv auf die Tiergesundheit auswirkt. Darauf weist eine seiner Studien hin, in der fettleibige Ratten mit Insekteneiweißen gefüttert wurden. Ihr Cholesterinspiegel sank um 50 Prozent, sogar Fettlebern wurden geheilt. Zudem gilt Chitin, das etwa in Insektenpanzern steckt, als stimulierend fürs Immunsystem.

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Trotzdem konnte sich Insektenmehl noch nicht flächendeckend durchsetzen – vor allem wegen seines hohen Preises. „Solange Sojaprotein spottbillig ist, wird sich alternatives Insektenprotein kaum behaupten können. Da nutzt auch die Nachhaltigkeit nichts. Einerseits muss die Produktion von Insekten billiger werden. Und Sie müssen verschiedene Produkte aus der Herstellung gewinnen.“

Wir wissen einfach noch nicht genug, um die Methode gewinnbringend einzusetzen.

Lena Schöneboom-Ernst,

beim Deutschen Bauernverband (DBV) die zuständige DBV-Referentin

Deshalb arbeiten Expertinnen und Experten daran, etwa aus dem Larvenfett ein Ersatz für Kokos- oder Palmöl herzustellen. Vilcinskas, der am Fraunhofer-Institut eine Projektgruppe „Bioressourcen“ leitet, nennt als Beispiel hochwertige Schmierstoffe für die Industrie, die sich aus den Lipiden herstellen ließen. Der Fraß der Insekten, Futterreste und Kot, könnte als Dünger genutzt werden.

Qualitativ übertrumpft Insektenmehl mit einem Eiweißgehalt von 50 bis 60 Prozent Soja deutlich, das je nach Mehltyp zwischen 43 und 48 Prozent aufweist. Auch Fischmehl als Futteralternative zu Soja wird unattraktiver, da die Meere sich immer mehr leeren und deshalb in tieferen Zonen gefischt werden muss.

Insekten müssen genauso gefüttert werden wie Nutztiere

Beim Deutschen Bauernverband (DBV) ist man dennoch skeptisch. „Grundsätzlich ist es eine schöne Herangehensweise, aber wir wissen einfach noch nicht genug, um die Methode gewinnbringend einzusetzen“, sagt Lena Schöneboom-Ernst, die zuständige DBV-Referentin. Das sehe man auch am Preis – während Sojaschrot teils weniger als 500 Euro pro Tonne kostet, liegt die gleiche Menge Insektenmehl im vierstelligen Bereich.

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Und es gibt noch eine große Einschränkung: Insekten sind als Nutztiere zugelassen, der DBV spricht auch von „Nutzinsekten“. Das führe dazu, sagt Schöneboom-Ernst, „dass wir die Fütterung von diesen Nutzinsekten rechtlich genauso gestalten müssen wie bei den klassischen Nutztieren“.

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Heißt: Die Insekten werden etwa auf Getreidebasis ernährt, mit Gräsern, Kleie oder Biertreber, genauso wie beispielsweise Schweine. Dadurch entstünde eine „gewisse Konkurrenzsituation“ ums Tierfutter. Verboten sind Speise- und Küchenabfälle oder Gänsekot – obwohl die Soldatenfliege auch darauf prächtig gedeiht.

„Damit beißt sich die Katze in den Schwanz, weil wir Alternativen, die wir gerne einsetzen würden, damit sich das Ganze rentiert, nicht einsetzen können“, sagt Schöneboom-Ernst. Dürfte man dagegen Reststoffe und ungenutzte Rohwaren einsetzen, ergäbe sich „eine ganz andere Spielwiese“.

Das sieht auch Andreas Vilcinskas so, der derzeit in Indonesien daran arbeitet, aus Rückstanden der Palmölproduktion Insektennahrung zu generieren. „Wenn Sie in der Landwirtschaft Nebenströme verfüttern können und dadurch etwas gewinnen, was Sie vermarkten können, denke ich, dass es sich in naher Zukunft auch bei uns rechnen wird.“

Wann isst der Mensch mehr Insekten?

Doch nicht nur Tiere, auch der Mensch wird in Zukunft viel mehr Eiweißquellen benötigen, um die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren. Während geschätzt bereits zwei Milliarden Menschen Insekten essen, etwa Grillen-Tacos oder gekochte Termiten, gelten die vier bisher in Europa zugelassenen Speiseinsekten vielen noch als rotes Tuch. Laut einer Umfrage eines EU-Forschungsprojekts in mehreren europäischen Ländern gaben etwa 64 Prozent der befragten Deutschen an, „niemals“ Nahrungsmittel aus Insekten essen zu wollen.

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Immer wieder nutzen vor allem konservative und populistische Politiker das Schreckensbild „Insektenfressen“, um politisch Stimmung zu machen. Der Markt für Speiseinsekten ist deshalb gerade in Europa noch verhältnismäßig klein, nach einer Gründungswelle verschwanden einige Start-ups schnell vom Markt.

Jane Lind Sam, die Insektenpionierin aus Flemming, steht dem Thema offen gegenüber. Ihre Anlagen, sagt sie, könnten natürlich genauso gut Insekten für die Lebensmittelindustrie produzieren – noch ist die Schwarze Soldatenfliege von der EU jedoch nicht als Speiseinsekt zugelassen. Probiert hat sie deren Larven dennoch schon. Man könne sie etwa grillen und salzen, dann schmeckten sie gut.



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