Dresden. Die Zeit verstrich, und die Umfragewerte waren mies: 26 Prozent wiesen die Demoskopen für die sächsische CDU aus. Keine zwei Monate vor der Landtagswahl lag die Union 2019 gleichauf mit der AfD. Der Druck auf Ministerpräsident und CDU-Spitzenkandidat Michael Kretschmer war enorm. Einen Endspurt, bei dem er vermutlich in jedem größeren Ort einmal Bratwurst für die Wählerinnen und Wähler briet, und einen Wahlabend später, war die Anspannung gewichen. Die CDU holte 32,1 Prozent und distanzierte die AfD.
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Der Erfolg war nicht nur Kretschmers Verdienst. Die CDU profitierte 2019 davon, dass sich in vielen politischen Lagern die Furcht vor einer starken AfD breitmachte. Grüne und SPD erlebten in den Sommerwochen, wie plötzlich von taktischem Wählen die Rede war. Viele machten sich Gedanken, ob sie dieses Mal das Kreuz ausnahmsweise bei der Union machen sollten.
Die Dramatik hat zugenommen
Laut Infratest dimap wechselten 2019 schließlich 34 000 Wähler von der SPD zur Union, bei der Linken waren es 30 000, bei den Grünen 13 000. Gemeinsam mit den 13 000 Wählern, die die FDP an sie verlor, konnte die CDU die eigene Abwanderung an die AfD (84 000 Wähler) mehr als ausgleichen. Ob das 2024 aber noch einmal gelingen kann?
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Theoretisch hat sich die Lage wenig verändert. Die Dramatik hat sogar eher zugenommen: Die CDU liegt in diesem Frühjahr deutlich hinter der AfD zurück. Die schwarz-grün-rote Koalition kann sich einer Mehrheit nicht sicher sein. Zehntausende gehen auf die Straße, weil sie eine AfD-Regierung fürchten. Die CDU schickt sich an, Kretschmer wieder als Gewährsmann für demokratische Mehrheiten in Szene zu setzen. „Wir arbeiten hart dafür, bei der Sachsenwahl deutlich stärkste Kraft zu werden“, sagt CDU-Generalsekretär Alexander Dierks. Doch es hat sich etwas verändert.
Entsetzen über den „anderen Kretschmer“
Mehr als jeder zweite Sachse ist mit der Arbeit des Ministerpräsidenten zufrieden. Grünen und SPD bemerken dennoch, dass ihre Anhänger merklich mit Kretschmer fremdelt. Eigene Erhebungen dazu gibt es nicht. Aber in beiden Parteien wird lautstark gefordert, dass Grüne und Sozialdemokraten Kretschmer stärker Paroli bieten.
Am Wahlabend 2019 blickten Katja Meier (Grüne), Michael Kretschmer (CDU/rechts) und Martin Dulig (SPD) im TV-Studio auf das Wahlergebnis. Nach der Wahl war schnell klar, dass alles auf Schwarz-Grün-Rot hinauslief. Heute fragen sich aber auch die Grünen, wo eigentlich der Michael Kretschmer mit seinen Ansichten von 2018/2019 hin ist.
Quelle: Robert Michael/dpa/Archiv
Seine Positionen zum Ukraine-Krieg, seine scharfen Kommentare und sein Zorn auf die Ampel-Regierung in Berlin machen Kretschmer für einen Teil seiner Wählerschaft aus dem Jahr 2019 eher unattraktiv. Die sächsische Justizministerin und grüne Spitzenkandidatin Katja Meier hat für dieses Fremdeln und das Entsetzen über den „anderen Kretschmer“ in einem Interview mit der „Freien Presse“ eine griffige Formulierung gefunden: „Wo ist der Michael Kretschmer von 2018 und 2019 hin?“ Ihre Parteivorsitzende Marie Müser lässt den Hinweis fallen, dass starke Grüne eine „stabile, demokratische Regierungsmehrheit“ in Sachsen garantierten.
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„Taktisch wählen macht unglücklich“
Dass die CDU mit Kretschmer inzwischen beim linken Lager heftige Reaktionen auslöst, ist zumindest ungewöhnlich. Die Sozialwissenschaftler Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser haben in ihrem Buch „Triggerpunkte“ nachgewiesen, dass die Zeiten starker Abneigungen eigentlich vorbei sind: Von einem „Kulturkampf“ zwischen den parteipolitischen Anhängerschaften könne keine Rede mehr sein. Bei den meisten Parteien gebe es „große Überlappungen“.
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SPD, Grüne und Linke werden alles daran setzen, ihre Unterstützer nicht erneut an die Union zu verlieren. „Es ist gut, wenn Menschen aus Überzeugung wählen. Niemand muss aus Notwehr irgendeine Partei, wie zum Beispiel die CDU, wählen, um eine andere Partei zu verhindern“, sagt der SPD-Landesvorsitzende Henning Homann. „Wer sozialdemokratisch denkt, soll sich am 2. September nicht schwarzärgern müssen. Taktisch wählen macht unglücklich.“
Linke: Vermeintlicher Zweikampf hat AfD nicht geschwächt
Für die Linke könnte ein Abwandern elementare Folgen haben. Sie muss fürchten, unter die Fünf-Prozent-Hürde zu fallen. Die Parteichefs Susanne Schaper und Stefan Hartmann sagen: „Niemand muss widerwillig CDU wählen, um die Demokratie zu verteidigen.“ Die Strategie, für die CDU zu votieren, „um einen vermeintlichen Zweikampf zwischen CDU und AfD zu entscheiden, ist offenkundig gescheitert“. Die „Fortführung der unsozialen Politik“ der CDU habe „die AfD nur weiter gestärkt“.
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Gewissheit, dass sie Erfolg hatten, haben Linke, SPD und Grüne allerdings frühestens am 1. September. Ihre Hoffnung ist bis dahin, dass sich 2019 nicht wiederholt.
Dieser Text erschien zunächst bei der „Leipziger Volkszeitung“.