Ein Sieg hatte sich zwar abgezeichnet, aber dass er so deutlich ausfallen würde, überraschte dann doch: Die Schweizer Stimmbevölkerung hat sich an diesem Sonntag mit rund 58 Prozent Ja-Stimmen für die Einführung einer 13. Monatsrente ausgesprochen. Damit ist dem Urheber der Initiative, dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB), eine Premiere gelungen. Noch nie in der Geschichte der direkten Demokratie der Schweiz hat die Bevölkerung einer Volksinitiative zugestimmt, die auf den Ausbau des Sozialstaats zielte.

Natürlich gibt es auch in der Schweiz Dinge wie Altersvorsorge, Kranken- und Arbeitslosenversicherungen oder einen bezahlten Mutterschaftsurlaub. Doch die Einführung dieser sozialen Sicherungsnetze im 20. und 21. Jahrhundert hat vergleichsweise lange gedauert; häufig hat die Bevölkerung sie per Referendum gestoppt, sodass sie erst im zweiten oder dritten Anlauf durchkamen. Dazu passt, dass Volksinitiativen (also Referenden über Ideen aus der Bevölkerung, nicht von Regierung oder Parlament), die sozialstaatliche Leistungen einführen oder erhöhen wollten, bislang kein einziges Mal an der Urne Erfolg hatten. Wieder und wieder haben die Schweizerinnen und Schweizer also die These widerlegt, dass mehr Volksbeteiligung an der Politik zu einem ausufernden und teuren Sozialstaat führe – bis zu diesem Sonntag.

Ein historischer Ausbau des Sozialstaats – mit ungeklärter Finanzierung

Schon am frühen Nachmittag zeigte sich, dass die Initiative nicht nur eine Mehrheit der Bevölkerung überzeugt hatte, sondern auch eine Mehrheit der Kantone. Beides, das Volks- und das sogenannte Ständemehr, ist erforderlich, damit eine Volksinitiative durchkommt. Vor allem das Ständemehr ist für linke Vorhaben oft das Problem, weil es den kleinen, konservativen Kantonen der Innerschweiz eine Art Vetorecht einräumt. Diesmal war deren Nein aber nicht genug.

Von 2026 an also, so sieht es der nun angenommene neue Verfassungspassus vor, werden die Rentnerinnen und Rentner des Landes eine 13. Monatsrente aus der ersten Säule erhalten, der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV). Das Kernargument der Urheberinnen und Urheber: Mieten, Krankenkassenprämien und Lebensmittel seien zuletzt derart angestiegen, dass ältere Menschen zunehmend Mühe hätten, überhaupt über die Runden zu kommen. Eine 13. Rente beuge Altersarmut vor.

Wie die Rentenerhöhung um gut acht Prozent finanziert werden soll, haben ihre Erfinder allerdings offengelassen – der zentrale Grund, warum die Schweizer Regierung und eine deutliche Mehrheit im Parlament die Initiative ablehnten. Das Nein-Lager hatte im Abstimmungskampf argumentiert, dass die Zukunft der AHV aufgrund der demografischen Entwicklung schon ohne eine 13. Rente bedroht sei. Jetzt wird die Finanzierungsfrage zwangsweise wieder Thema im Parlament werden, wo die Initiative umgesetzt werden muss. Gemäß Behörden wird es entweder auf eine Erhöhung der Lohnabzüge oder eine höhere Mehrwertsteuer hinauslaufen, um jährliche Mehrkosten von mittelfristig rund fünf Milliarden Franken aufzubringen.

Das Nein-Lager sprach am Sonntag von einem “rabenschwarzen Tag für die Jungen”. Denn die Schweizer Stimmbürger haben an diesem historischen Tag nicht nur die 13. AHV-Rente angenommen, sondern auch die ebenfalls zur Abstimmung stehende Renteninitiative der Jungfreisinnigen abgelehnt. Das Vorhaben der liberalen Jungpartei der Schweiz sah eine Erhöhung des Rentenalters von 65 auf 66 Jahre und danach eine Koppelung an die Lebenserwartung vor – alles, um die Finanzierung der AHV langfristig zu sichern. Rund 75 Prozent der Abstimmenden lehnten diese Initiative ab. Deutlicher konnten die Eidgenossen fast nicht zeigen, dass in ihrem einst so sparsamen und wirtschaftsliberalen Land neue Zeiten angebrochen sind.



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