Die rote Brandmauer steht. Die Bodyguards von Olaf Scholz werfen sich vor den Bundeskanzler und seinen Stier, oder besser: Nicht-Stier. Die zur Verteidigung ihres ersten Mannes aufgelaufenen Regierungschef-Beschützer, das ist die erste, die zweite und die dritte Reihe der Sozialdemokraten. Die einmal mehr verquere Taurus-Kommunikation von Olaf Scholz hat die Rettungsaktion nötig gemacht.
Könnte Scholz klar und nachvollziehbar erklären, weshalb er die Taurus-Marschflugkörper nicht liefert, wäre er auf die geballte Hilfe seiner Parteigenossen gar nicht angewiesen. Der Kanzler braucht aber die Schützenhilfe, weil er permanent neue Erklärungen liefert, die den Eindruck hinterlassen, Scholz bewege sich bei einer wichtigen militär-strategischen Entscheidung in einer Grauzone zwischen Unwahrheit und Unwissen. In Fragen von Krieg und Frieden Unklarheit zu stiften, ist aber eine brandgefährliche Angelegenheit.
Nein, die deutschen Offiziere haben nicht gerade einen deutschen Kriegsakt gegen Russland geplant
Man sieht es an der Reaktion der Russen. Moskau hat die Abhörprotokolle der deutschen Offiziere zuerst veröffentlicht, um dann aus dieser Veröffentlichung die Schlussfolgerung zu ziehen: Russlands Propagandisten erheben den Vorwurf, Deutschland plane einen Krieg gegen Russland. Die Russen wehren sich gegen ein Bedrohungsszenario, das sie selbst geschaffen haben.
Wladimir Putins oberster Scharfmacher, Dmitri Medwedew, nennt die Deutschen nach dem Taurus-Leak die eingefleischten Feinde Russlands. Ganz in der Spur der Russen – der einflussreiche AfD-Politiker Björn Höcke. Der Spitzenmann aus Thüringen beklagt die „politische Naivität von Luftwaffenoffizieren, „die uns in einen Krieg, ja, in ein nukleares Armageddon hineinziehen könnte“. Eine Version, die der Wirklichkeit nicht standhält.
Ausweislich des von Moskau veröffentlichten und von der Bundesregierung in seiner Echtheit bestätigten Gesprächsprotokolls haben die deutschen Offiziere gerade nicht einen deutschen Kriegsakt gegen Russland geplant. Das glatte Gegenteil ist richtig: Sie bereiteten ein fachliches Briefing des Bundesverteidigungsministers über die Taurus-Mittelstreckenrakete vor. Das ist ihr Job, und Boris Pistorius stellte sich denn auch vor seine loyalen Soldaten.
An der Seite des Kanzlers: die komplette SPD-Partei- und Fraktionsführung
Pistorius aber tat aber noch mehr: Man dürfe jetzt „Putin nicht auf den Leim gehen“. Denn der wolle die deutsche Innenpolitik (und die Nato) auseinanderdividieren. Es war nicht weniger als der legale, aber illegitime Versuch, die Opposition in eine Art Einheitsfront der Regierung einzubinden, nach dem Motto: Gegen diesen mächtigen äußeren Feind müssten doch jetzt alle zusammenstehen.
Pistorius ist nicht nur als Verteidigungsminister politisch verantwortlich für das leichtsinnige Verhalten seiner Offiziere, die offenkundig nicht bemerkten, dass sich wohl ein russischer Spion in ihre auf dem unsicheren Netzwerk Webex abgehaltene Konferenz eingeschaltet hatte. Pistorius ist auch der in militärischen Fragen oberste Prätorianer des Kanzlers.
An seiner Seite: die komplette SPD-Partei- und Fraktionsführung. Kevin Kühnert als Generalsekretär, Saskia Esken und Lars Klingbeil als Parteichefs, sie sichern den Kanzler ab – gegen internationale Angriffe wie gegen Anwürfe der Opposition. Kühnert sagt, Scholz habe einen „Amtseid“ geschworen, und es sei dessen „verdammte Pflicht“, Deutschland aus einem Krieg herauszuhalten. Wobei – wir kommen noch dazu – Deutschlands Beteiligung am Ukraine-Krieg mit Bodentruppen ohnehin nicht zur Debatte steht.
Nicht Scholz entscheidet, ob Deutschland „Kriegspartei“ ist, sondern Putin
Klingbeil nennt es richtig, „dass der Bundeskanzler ein Stoppschild gesetzt hat“. Deutschland werde nicht selbst „Kriegspartei“. Wobei: Der Begriff „Kriegspartei“ ist ein völkerrechtliches Unikum – es gibt ihn schlicht nicht. Die Ukraine darf sich gegen einen Angriff verteidigen. Sie darf sich vom Ausland dabei helfen lassen, auch mit schwersten Waffen. Und sie darf ihr eigenes Territorium zurückerobern wollen, und sie darf dabei auch von den Russen beanspruchtes wie tatsächlich russisches Territorium angreifen. Das alles erlaubt das Kriegsvölkerrecht.
Außerdem: Nicht Scholz entscheidet, ob Deutschland „Kriegspartei“ ist, sondern: Putin. Und da der sich ohnehin nicht ans Völkerrecht hält, ist es auch müßig, ihm gegenüber völkerrechtliche Kategorien zu bemühen. Aus diesem Zusammenhang rührt der Vorwurf der Union, Scholz lasse sich von Putin treiben.
Saskia Esken schützt Scholz derweil vor Angriffen von FDP und Grünen. Die liberale Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann warf Scholz eine Falschaussage vor: Es brauche nicht zwingend deutsche Soldaten, um den Taurus zu bedienen. Und der härteste Grüne, Toni Hofreiter, bescheinigte Scholz ein „Zeichen von Schwäche“. Heftige Vorwürfe jedenfalls – die Esken mit nur einem Satz konterte: „Es gibt eine gut begründete Entscheidung des allein dafür zuständigen Bundessicherheitsrates.“
Scholz hat sich bei der Taurus-Entscheidung nach allen Seiten abgesichert
Nun, dieser Kabinettsausschuss wird zwar von Scholz als Kanzler geführt, aber die grünen Spitzenpolitiker Robert Habeck und Annalena Baerbock sowie der FDP-Chef Christian Lindner sind ebenfalls anwesend. Eskens knallharte Botschaft an die Opponenten in der eigenen Regierung: Was wollt ihr eigentlich, eure Chef-Repräsentanten tragen doch das Taurus-Nein von Scholz mit.
Schließlich der SPD-Fraktionschef. Ohne die Unterstützung von Rolf Mützenich könnte Olaf Scholz nicht weiter regieren. Mützenich führte zur Verteidigung des Kanzlers ein fein ziseliertes neues Argument ein: Wenn man für den Taurus – „an welchem Ort auch immer“ – deutsche Soldaten brauche, dann gehe das nicht ohne einen Bundestagsbeschluss. So habe es auch das Bundesverfassungsgericht entschieden. Die Bundeswehr sei schließlich eine Parlamentsarmee.
Und so hat sich unter dem Strich Scholz in der so wichtigen Taurus-Entscheidung nach allen Seiten abgesichert. Niemand mehr soll ihn dazu bewegen können, diese Marschflugkörper zu liefern, wenn er es nicht will. Und falls er es dann doch irgendwann will, wird nur einer das entscheiden: Olaf Scholz.
Scholz liefert keine Taurus – und der Preis ist hoch
Dessen Absicherung gegen freundliches und unfreundliches Feuer funktioniert nun so:
Erstens: Taurus braucht auch in der Ukraine deutsche Soldaten. Deutsche Soldaten einzusetzen aber würde Deutschland zum Kriegsteilnehmer machen.
Zweitens: Engländer und Briten liefern zwar Mittelstreckenraketen, die zwar nicht so gut sind wie der Taurus. Und die Engländer haben auch eigene Truppen in der Ukraine, aber: Dieser Weg ist Deutschland verbaut, denn: siehe erstens. Und: Engländer und Briten brauchen dafür keinen Parlamentsbeschluss, Deutschland käme ohne aber nicht aus: siehe Mützenich.
Drittens: Die Angriffe insbesondere der Briten, die Scholz Geheimnisverrat vorwerfen, kontern seine Leute damit, dies sei doch lange bekannt gewesen. So wollen sie Leute wie den Ex-Verteidigungsminister Ben Wallace ins Leere laufen lassen. Wallace hatte als der Mann, der die Stormshadow-Mittelstreckenraketen für die Ukraine genehmigt hatte, über den deutschen Kanzler gesagt, dieser sei: der „falsche Mann im falschen Job zur falschen Zeit“. Härter geht es kaum.
Viertens: Und selbst wenn das Scholz-Argument mit den deutschen Taurus-Soldaten nicht zu halten sein sollte, hat Scholz inzwischen eine neue Haltelinie aufgebaut. Sie lautet: Moskau sei in der Reichweite von Taurus. Womit Scholz zugleich eindeutig klarmachte, dass er der Ukraine am Ende nicht vertraut. Bei den Taurus „will man auch wissen, wo sie landen“. Dass die Ukraine sich bei allen Waffenlieferungen bislang an Absprachen mit den westlichen Lieferanten gehalten hat, ficht Scholz nicht an. Er glaubt nur, was er glauben will.
Scholz liefert keine Taurus – und der Preis ist hoch. Das Vertrauen in der Ampelkoalition erodiert deshalb weiter. Das Vertrauen der verbündeten Europäer leidet weiter Schaden. Und doch satteln die Russen bei ihren Drohungen immer weiter drauf. Aber: Scholz setzt sich durch, seine SPD stützt ihn loyal.
Und am Ende wähnt der Kanzler die – mehrheitlich konfliktentwöhnte, pazifistische – Bevölkerung an seiner Seite.