Die Crew der „Sea-Watch 5“ ist erleichtert. Die Seenotretterinnen und ‑retter haben gerade in einer nervenaufreibenden Aktion 50 Migrantinnen und Migranten aus einem viel zu kleinen hellblauen Holzboot vor Libyen gerettet. Sie sind in Sicherheit. Vorerst. Während die Menschen aus Bangladesch, Syrien oder Ägypten an Bord Wasser, Kleidung und Decken bekommen, ereilt die Einsatzleitung und den Kapitän auf der Brücke bereits eine Nachricht der italienischen Behörden. Nach Civitavecchia sollen sie die 50 Geflüchteten bringen. Und zwar auf direktem Weg. Ohne weitere Personen an Bord zu nehmen.

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Civita… was? Wo ist das überhaupt? Es folgt eine kurze Internetrecherche. Schnell weiß Einsatzleiterin Mattea Weihe: Civitavecchia liegt ganze zweieinhalb Tage entfernt von ihrem Standort in der Region Latium.

Mattea ist Einsatzleiterin an Bord der „Sea-Watch 5“

Mattea Weihe arbeitet im Januar für vier Wochen auf der „Sea-Watch 5“ als Einsatzleiterin. Was macht sie genau? Was treibt sie an?

Sie haben im Vergleich sogar noch Glück gehabt. Die anderen Hilfsorganisationen, die zeitgleich in der Region unterwegs waren, wurden buchstäblich in die Toskana geschickt. Für Mattea Weihe ist es ihr erster Einsatz in dieser neuen Realität – unter der neuen Politik Italiens: „Das finde ich schon wirklich sehr, sehr frustrierend.“

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Warum müssen zivile Seenotretterinnen und Seenotretter die Geretteten überhaupt so weit in den Norden Italiens bringen? Auf der „Sea-Watch 5“ ist Platz für mehr als 350 Geflüchtete. Wieso fahren sie dann mit 50 Menschen direkt zu einem italienischen Hafen?

Der italienische Innenminister hat eine Idee

Die Antwort: das sogenannte Piantedosi-Dekret. Dieses italienische Dekret, benannt nach Italiens Innenminister Matteo Piantedosi, soll die Arbeit der Organisationen im Mittelmeer neu regeln. In Kraft getreten ist es Anfang 2023. Dekret Nummer 1/2023 markiert ein neues Kapitel des Konflikts zwischen ziviler Seenotrettung und italienischen Behörden.

Nassim Madjidian forscht zum rechtlichen Rahmen der zivilen Seenotrettung an der Universität Hamburg und ist juristische Beraterin der Organisation Sea-Eye. Sie sieht in diesem Dekret den Beginn einer dritten Phase der Seenotrettung im Mittelmeer: „Zunächst war die Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Akteuren und den Nichtregierungs­organisationen sehr kooperativ. Dann kam Matteo Salvini, der italienische Ex-Innenminister, der die Häfen schließen ließ. Und seit einiger Zeit wird durch immer neue Regelungen versucht, die private Seenotrettung nicht komplett einzustellen, sondern sie zu erschweren.“

Sticheleien zwischen der EU und Italien – wieder mal

Im Januar 2023, noch bevor das Dekret in Kraft getreten ist, schrieb die Menschenrechts­kommissarin der EU, Dunja Mijatovic, an den aktuellen italienischen Innenminister Matteo Piantedosi. Mijatovic stellte klar, dass das Recht so interpretiert werden könne, dass es „effektive Such- und Rettungseinsätze von Nichtregierungs­organisationen verhindern“ könne. Dass Kapitäne in die Lage versetzt werden könnten, ihre per internationalem Recht gegebene Pflicht zur Rettung ignorieren zu müssen.

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Die EU-Menschenrechts­kommissarin Dunja Mijatovic.

Die EU-Menschenrechts­kommissarin Dunja Mijatovic.

Die Antwort der italienischen Behörden auf den Brief der EU-Kommissarin stellte die Ziele des Dekrets unmissverständlich klar. Sie schrieben, dass zivile Seenotretterinnen und Senotretter Schmugglern mit ihrer Arbeit Sicherheit geben würden. Eine Behauptung, die wissenschaftlich mindestens umstritten ist. Auf Grundlage dessen solle diese neue Regelung verhindern, dass Migrantinnen und Migranten „systematisch“ in den Gewässern vor Libyen und Tunesien aufgegriffen würden, um sie dann „ausschließlich“ nach Italien zu bringen.

Außerdem sollen Verwaltungen im „Hotspot Lampedusa“ genauso wie in den süditalienischen Regionen, zum Beispiel Sizilien oder Kalabrien, entlastet werden. Deswegen lässt die Seenotrettungs­leitstelle in Rom die Rettungsschiffe nicht mehr nach Lampedusa oder Sizilien, sondern schickt sie unter anderem nach Ligurien an der West- oder in die Emilia-Romagna an der Ostküste.

Italien sagt, dass es dieses Dekret braucht, um Behörden zu entlasten und den Schmuggel zu bekämpfen. Seenotretterinnen und ‑retter widersprechen dem vehement, versuchen, sich bestmöglich anzupassen, und halten das Dekret – wie auch einige Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler – für völkerrechtswidrig.

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Währenddessen verlieren die Retterinnen und Retter auf ihren Schiffen dadurch vor allem Zweierlei: Geld und Zeit.

Deutlich mehr Kosten, deutlich weniger Zeit

Ein Vertreter der italienischen Nichtregierungs­organisation Emergency beziffert gegenüber dem britischen „Guardian“ die Mehrkosten allein für Treibstoff. Durch die entfernten Häfen sind das demnach rund 50.000 Euro pro Rettung.

Die Organisation SOS Humanity hat vor Kurzem Zahlen veröffentlicht, wie viele Tage Organisationen in der Rettungszone durch das Piantedosi-Dekret im Jahr 2023 verloren haben. Dazu analysierte sie Rettungen von rund 20 Schiffen der „zivilen Flotte“, wie sich die zivilen Seenotretterinnen und Seenotretter im Verbund selbst nennen. Verglichen wurden die entfernten Häfen, die angesteuert werden mussten, mit Lampedusa bei kleineren und Pozzallo auf Sizilien bei größeren Schiffen. Das Ergebnis: In einem Jahr verlor die „zivile Flotte“ 374 Tage und fuhr, mit Blick auf die Kilometer, ganze dreieinhalbmal um die Welt.

Gegenwind zieht auf

Mittlerweile weht dagegen auch in Italien selbst immer schärferer rechtlicher Gegenwind. Nachdem die „Ocean Viking“ der Nichtregierungs­organisation SOS Méditerranée Anfang Februar von italienischen Behörden auf Grundlage des Piantedosi-Dekrets festgesetzt worden war, genehmigte das Zivilgericht im süditalienischen Brindisi die Berufung dagegen. Dies sei ein kleiner, nur vorläufiger Sieg, erklärt Nassim Madjidian von der Universität Hamburg.

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Das Schiff „Ocean Viking“ fährt unter norwegischer Flagge und wird von der Nichtregierungs­organisation SOS Méditerranée betrieben.

Das Schiff „Ocean Viking“ fährt unter norwegischer Flagge und wird von der Nichtregierungs­organisation SOS Méditerranée betrieben.

Am 14. März wird am selben Gericht darüber entschieden, ob die Festsetzung damals generell überhaupt begründet war. „Nun wartet die gesamte Seenot­rettungsszene auf den nächsten juristischen Etappensieg mit dem Ziel, dass ein italienisches Gericht die Rechtswidrigkeit und Unvereinbarkeit des Piantedosi-Dekrets mit Seevölkerrecht feststellt“, sagt Madjidian.

Weitere Klageverfahren gegen die Festsetzungen seien in Italien noch anhängig und es könne gut sein, dass es im Laufe der nächsten Wochen noch einige Urteile gebe.

Hat Rom sein Ziel erreicht?

„Mit der Zuweisung eines entfernten Hafens und der Aufforderung, diesen entfernten Hafen ohne irgendwelche Umwege anzulaufen, setzt man Seenot­rettungsschiffe außer Kraft“, sagt Mattea Weihe, Einsatzleiterin der „Sea-Watch 5″-Mission, im Januar.

Die Rettung wird also durch die italienischen Vorgaben ungleich aufwendiger – und dauert viel länger als notwendig.

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Nach zweieinhalb Tagen Fahrt erreicht die „Sea-Watch“-Crew mit den 50 Geretteten ihr von der Küstenwache vorbestimmtes Ziel. Civitavecchia ist so etwas wie der Hafen Roms. Hier docken tagtäglich Kreuzfahrtschiffe an, um Tausende Menschen von ihrem All-inclusive-Traumschiff in die italienische Hauptstadt zu transportieren. Dort besichtigen sie das Kolosseum, steigen auf die Spitze des Petersdoms und versenken im Trevibrunnen Geld für Glück in der Zukunft.

Die Crew der „Sea-Watch“ bringt derweil 50 Menschen nach Civitavecchia, die zuvor mindestens anderthalb Tage lang auf dem Mittelmeer getrieben sind. Eng zusammengestaucht, in ihrem eigenen Urin sitzend, ohne Gewissheit, ob sie je ankommen werden. Sie alle hoffen auf eine glücklichere Zukunft – in Europa.

50 Gerettete verlassen die „Sea-Watch 5“.

50 Gerettete verlassen die „Sea-Watch 5“.

Das Prozedere mit den Behörden geht dieses Mal schnell. Am Abend verlässt das Schiff wieder den Hafen. Selten sei es so problemlos abgelaufen, sagt der Kapitän in einem Meeting der Crew danach.

Der Kapitän und die Brücke navigieren zurück nach Sizilien. Von dort aus sind sie zu ihrer Rettungsmission gestartet und von dort aus wird die „Sea-Watch“ dann mit neuen freiwilligen Crewmitgliedern zu ihrem nächsten Einsatz starten. Ganze 24 Tage nach der Rettung von 50 Menschen aus ihrem hellblauen Holzboot vor der Küste Libyens. In diesen 24 Tagen konnten sie keine anderen Menschen retten.

Inzwischen ist auch die „Sea-Watch 5“ für 20 Tage festgesetzt. Die Crew habe den Anweisungen der libyschen Küstenwache bei einer Rettung Anfang März nicht Folge geleistet, so die Begründung. Die Organisation Sea-Watch selbst widerspricht dem. Sprecher Oliver Kulikowski sagt: „Die Festsetzung der ‚Sea-Watch 5‘ ist ein rein politisches Manöver.“



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