Heute ist Jason Padgett ein Mathematik-Genie. Seine Welt besteht aus geometrischen Mustern. Als einer von wenigen Menschen weltweit kann er Abbildungen von sogenannten Fraktalen zeichnen. Das sind ganz spezielle grafische Strukturen.

Dabei sah zunächst nichts nach mathematischen Begabungen aus. Das College hatte der US-Amerikaner abgebrochen. Er beschrieb sich im Nachhinein selbst als „Faulenzer“ mit null Interesse an einer akademischen Laufbahn. Mit Zahlen sei er nur in Kontakt gekommen, wenn er die Stunden gezählt habe, die er noch im Möbelladen seines Vaters arbeiten musste, bis er wieder um die Häuser ziehen konnte.

Prügel-Attacke verändert sein Leben – Padgett wird zum Mathe-Genie

Das änderte sich am 13. September 2002. In einer Karaokebar attackierten ihn zwei Männer von hinten und schlugen ihn auf den Hinterkopf. Er fiel auf den Boden. Die Männer prügelten weiter auf ihn ein. Traten ihn mit Füßen. Erst als er den Angreifern seine Lederjacke gab, ließen sie von ihm ab. Padgett wurde ins Krankenhaus gebracht und in der gleichen Nacht wieder entlassen. Die Diagnose: schwere Gehirnerschütterung und eine Nierenverletzung.

Doch die Schläge hatten noch etwas anderes in seinem Kopf verändert. „Am nächsten Morgen stand ich in meinem Badezimmer und starrte auf das fließende Wasser, das aus dem Hahn strömte“, beschreibt Padgett in seinem Buch den Moment, in dem er merkte, dass etwas anders war. Er habe auf einmal in allen Dingen bestimmte Muster gesehen und sei selbst von den Wasserlinien, die, wie er sagt „perpendikulär aus dem Hahn herausströmten“, fasziniert gewesen.

Padgett wurde wie besessen von sämtlichen Formen in seinem Haus – den Rechtecken der Fenster, der Krümmung eines Löffels. Er hörte auf zu arbeiten und fing an, alles über Mathematik und Physik zu lesen, was er in die Finger bekommen konnte. Als er sah, wie sich ein Lichtstrahl an einem Autofenster brach, habe es Klick gemacht. „Ich begriff, jeder der Strahlen ist eine Repräsentation der Zahl Pi.“

Er begann zu malen. Die Strukturen einer Schneeflocke, die Adern auf einem Laubblatt. Es handelt sich dabei um sogenannte Fraktale, wie Padgett später herausfand. Fraktale sind Strukturen, die bei unterschiedlicher Betrachtung verschiedener Größenmaßstäbe immer wieder dieselbe Grundformen erkennen lassen. Für manche benötigte er mehrere Tage, für andere sogar Wochen. „Sie mussten einfach perfekt sein.“

Nur 100 Menschen weltweit – das steckt hinter Savant-Syndrom

Padgett gehört mit seiner Fähigkeit zu den nur 100 Menschen weltweit mit dem „Savant Syndrom“. Als er eine BBC-Dokumentation über das Thema gesehen habe, wusste er: „Das ist es. Das ist mit mir passiert.“

Savant-Syndrom  oder auch Inselbegabung beschreibt das Phänomen, dass Menschen eine außergewöhnliche Begabung in einem speziellen Teilbereich besitzen. Savants („Wissender“ auf Französisch) vergessen nicht. Sie können Telefonbücher auswendig aufsagen, zeichnen Stadtpläne aus dem Gedächtnis und spielen spontan Pianokonzerte nach. Oft haben sie eine geistige Behinderung oder eine Entwicklungsstörung. So liegt der Intelligenzquotient vieler Savants unter dem Wert von 70, also weit unter dem Durchschnitt. Dafür ist er in ihrem speziellen Bereich, ihrer Insel, überdurchschnittlich hoch.

Der autistische Alonzo Clemons konnte schon als kleines Kind perfekte Tierskulpturen mit seinen Händen formen. Gleichzeitig ist er nicht in der Lage, selbstständig zu essen oder sich die Schuhe zu binden.

Oder die blinde und geistig behinderte Leslie Lemke. Mit 14 Jahren spielte sie plötzlich mitten in der Nacht Tschaikowskys Pianokonzert Nummer eins auf dem Klavier. Ohne jemals Klavierunterricht gehabt zu haben. Sie hatte das Stück als Hintergrundmusik im Fernsehen gehört.

Daneben gibt es allerdings auch Savants mit normalem oder überdurchschnittlichem IQ.

Als häufige Talente von Savants gelten

  • fotografisches Gedächtnis
  • perfektes Gehör
  • außergewöhnliches Langzeitgedächtnis
  • mathematisches Talent
  • schnelles Erlernen von Sprachen
  • musikalisches Talent

Die genaue Ursache ist noch unklar

Noch immer ist die genaue Ursache nicht geklärt. Bekannt ist allerdings, dass

  • besonders Menschen mit Autismus (die Hälfte aller Savants lassen sich autistischem Spektrum zuordnen) und
  • mehr Männer als Frauen (sieben von acht Savants sind männlich)

über diese Fähigkeit verfügen. Über die Ursachen wird viel debattiert. So scheint die linke Gehirnhälfte oder die Verbindung zwischen linker und rechter Hirnhälfte der meisten Savants geschädigt zu sein. Neurobiologen gehen davon aus, dass die rechte Gehirnhälfte versucht, die Defizite der linken auszugleichen. Als Ursache der Schädigung vermuten Hirnforscher eine Testosteronvergiftung während der Embryonalentwicklung. Jungen erzeugen im Mutterleib mehr Testosteron als Mädchen. Wird zu viel davon produziert, kann diese Überdosis das junge Hirngewebe schädigen.

Als weitere Erklärung kommt auch ein Fehler im Filtersystem des Gehirns in Frage. Als Schutz vor Überlastungen filtert das Hirn normalerweise alle eingehenden Informationen. Der Mensch kann also nur auf wirklich wichtige Dinge zugreifen. Das hilft ihm, nicht in der täglichen Datenflut zu ertrinken. Bei Savants funktionieren Teile dieses Filters vermutlich nicht. Alles, was sie sehen, hören oder lesen ist für sie gleich wichtig. Sie vergessen nichts und können daher eine enorme Menge an Fakten abrufen.

Savant-Syndrom durch neurologische Erkrankung oder Unfall

Das Savant-Syndrom ist in den meisten Fällen angeboren. Die Inselbegabung kann jedoch auch die Folge einer neurologischen Erkrankung oder Verletzung sein und damit später im Leben auftreten. Padgett ist ein Beispiel hierfür. Oder Orlando Serrell, der mit zehn Jahren einen Baseball an den Kopf bekam und sich seitdem an jedes Detail jedes einzelnen Tages erinnert.

In Kalifornien berichteten Wissenschaftler des Crafton Hills College von einem kleinen Jungen, der nach einer Schussverletzung der linken Schläfe behindert und taubstumm war, aber plötzlich komplizierte technische Geräte konstruieren konnte.

Savants sollen Talent ausleben – auch als Therapie

Der US-amerikanische Psychiater Darold Treffert hat mehr als 40 Jahre lang Savants erforscht. Die meisten kannte der mittlerweile verstorbene Experte persönlich. Er sagte, Savants müssten ihr Talent ausleben. Jonglieren mit Zahlen, Zeichnen oder Klavier spielen seien für sie so wichtig wie die Luft zum Atmen.

Treffert hatte die Erfahrung gemacht, dass Savants, die ihre Fähigkeiten nutzen, nicht nur sozialer werden und besser integriert sind, sondern auch sprachlich Fortschritte machen. Es sei deshalb sinnvoll, ihr Talent zu fördern. Für sie sei es eine Art Therapie.

Schlummert in uns allen ein Savant?

Auch sah Treffert großes Potential in der Erforschung. Savants wüssten Dinge, die sie nie gelernt haben. Woher? Und was für ein Potenzial steckt dann in uns allen? Wie können wir es abrufen, ohne einen Herzinfarkt zu bekommen oder einen Schlag an den Kopf? Auf diese Fragen gibt es (noch) keine Antworten.

Doch ist das überhaupt erstrebenswert? Mathematik-Genie Padgetts Leben hat sich jedenfalls drastisch verändert. Er hat eine panische Angst vor Keimen entwickelt und wäscht deshalb pausenlos die Hände. Kurz studierte er, brach es allerdings wieder ab, weil ihm nach eigenen Angaben das Geld ausging. Heute hält er Ted-Vorträge und verkauft seine Kunstwerke. Möchte er denn sein altes Leben zurück? „Nein“, sagt er. Aber manchmal vermisse er die unschuldige Unwissenheit über das Leben.





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