Anderthalb Jahre vor der nächsten Bundestagswahl schießen die Spekulationen ins Kraut: Mit wem gehen die Grünen in den Wahlkampf? Der von vielen als Favorit gehandelte Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck wiegelte am Wochenende ab. „Annalena Baerbock und ich tun in der Bundesregierung alles, um für die Sicherheit und Freiheit unserer Republik zu arbeiten“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Davon leitet sich unser konkretes Handeln, die tägliche Arbeit ab. Was sicher nicht dazugehört, ist, um uns selbst zu kreisen.“

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Auf die Frage, ob die Grünen im kommenden Jahr überhaupt einen Kanzlerkandidaten ins Rennen schicken werden, beschied er: „Wir werden alles zur rechten Zeit entscheiden, jetzt steht diese Debatte nicht an.“ Es war eine möglicherweise dringend benötigte Klarstellung, denn die Lust auf (mehr?) Verantwortung ist Habeck seit ein paar Monaten an der Nasenspitze anzusehen. Eine staatstragende Videobotschaft folgt der anderen. Habeck erklärt, plädiert und – wie er es selbst gern nennt – entwirrt und sortiert die öffentliche Debatte, ob in seinem Video nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel, den Gedanken zum Jahresausgang oder seiner Osterbotschaft. Kurzum: Habeck kanzlert.

Wirtschaftslage könnte Habeck gefährlich werden

Das Formtief mit dem monatelangen Ringen um das ungeliebte Heizungsgesetz und dem überaus zähen Abschied von seinem schon längst nicht mehr tragbaren Top-Mitarbeiter Patrick Graichen im vergangenen Jahr liegen hinter Habeck. Der Ausbau der erneuerbaren Energien läuft, beim Klimaschutz sieht es besser aus. Gefährlich könnte dem Minister aber die maue Wirtschaftslage werden.

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Annalena Baerbock als zweite ernsthafte Anwärterin für die Pole-Position im kommenden Wahlkampf tut ihrerseits, was sie immer tut: Die Außenministerin reist in irrer Geschwindigkeit durch die Welt, auch immer wieder nach Israel. Seit Ausbruch des Gaza-Kriegs ist sie noch präsenter geworden, auch mit ihren Bemühungen um die arabischen Staaten. Wie Habeck macht sie ihren Job als Ministerin. Anders als er verzichtet sie auf Auftritte als nebenberufliche Welterklärerin.

ARCHIV - 12.03.2024, Berlin: Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, kommt zur Grundsteinlegung für ein Energieprojekt am Standort vom Heizkraftwerk Reuter West. Der Bundesklimaschutzminister hält das deutsche Klimaschutzziel für das Jahr 2030 für erreichbar. «Wenn wir Kurs halten, erreichen wir unsere Klimaziele 2030», erklärte der Grünen-Politiker in einer am Freitag in Berlin veröffentlichten Mitteilung mit Bezug auf neue Daten des Umweltbundesamts. Bis dahin soll laut Klimaschutzgesetz der deutsche Ausstoß an Treibhausgasen um 65 Prozent im Vergleich zum Jahr 1990 sinken. Foto: Jens Kalaene/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Unser Lehrer Doktor Habeck

Der Wirtschaftsminister lobt die Deutschen. Das Land sei bei der Reduktion von Treibhausgasen endlich auf Kurs, Klimaschutz und Wachstum funktionierten zusammen. Die erste These mag stimmen, kommentiert Andreas Niesmann. Der Beweis der zweiten steht aber noch aus.

Rückhalt für Habeck größer?

Es gibt Grüne, die die Sache wegen Habecks Zugriff auf den Vizekanzler-Posten nach der Wahl 2021 für längst entschieden halten – wenn auch nicht im formalen Sinne, da ist noch alles offen. Und in der Tat, die eigentlich inoffizielle Funktion gewährt ihm ein Gewicht, auf das er sich als einfacher Minister nicht berufen könnte: Er koordiniert die Arbeit der grünen Ministerien und verhandelt bei internen Konfliktthemen wie dem Asylrecht und der Bezahlkarte für Flüchtlinge mit.

Nicht wenige haben den Eindruck, der interne Rückhalt für Habeck sei größer. Was aber auch daran liegen könnte, dass Team Habeck bei den Grünen gerade lautstärker unterwegs ist als Team Baerbock. Allerdings wittert selbst eine Grüne, die beide mit politischer Distanz betrachtet, ein stilles Einvernehmen: Die beiden Konkurrenten kämen gerade auffällig gut miteinander zurecht, gibt sie zu bedenken. Was nur bedeuten könne, dass die Frage längst im Sinne Habecks geklärt sei.

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Baerbock-Umfeld für Urwahl

Das klingt im Umfeld Baerbocks allerdings ganz anders. Dort heißt es vielmehr, man wolle am vor zweieinhalb Jahren vereinbarten Verfahren zur Kandidatenaufstellung festhalten. Im September 2022 hatte der Vorstand entschieden, dass die Partei-Basis bei einer Urwahl entscheiden solle, falls es mehrere aussichtsreiche Kandidaten geben sollte.

Einen solch öffentlich ausgetragenen Machtkampf will die Parteiführung allerdings unbedingt vermeiden, man fürchtet Schaden für den unterlegenen Kandidaten. Jemand, der bereits beim letzten Bundestagswahlkampf im Umfeld der Parteispitze dabei war, meint: „Egal, für welchen Kandidaten oder welche Kandidatin man sich am Ende entscheidet: Beide werden im Wahlkampf als Team eine herausragende Rolle spielen müssen.“

Annalena Baerbock, Außenministerin, spricht mit Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz.

Annalena Baerbock, Außenministerin, spricht mit Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz.

Ob die ganze Diskussion irgendeine Bedeutung hat, ist eine andere Frage. In den Umfragen pendeln die Grünen zwischen 13 und 15 Prozent, also ziemlich genau auf dem Niveau des letzten Bundestagswahl-Ergebnisses. Die Frage, ob die Grünen überhaupt einen Kanzlerkandidaten in den Wahlkampf schicken, soll sich nach der Europawahl im Juni entscheiden – und hier lassen die Umfragen wenig Gutes vermuten.

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Nach mehr als zwei Regierungsjahren im unerquicklichen Ampel-Korsett mit SPD und FDP haben die Grünen viel von ihrem Glanz eingebüßt. Die historische Chance der Bundestagswahl 2021, als die Grünen nach sechzehn Oppositionsjahren unverbraucht und mit dem Rückenwind großer Klima-Demos in den Wahlkampf zogen, kommt so schnell nicht wieder.

Denn die meisten Bürgerinnen und Bürger nehmen die Grünen nicht als die pragmatische, kompromissbereite Kraft der Mitte wahr, als die sie selbst sich gern sehen. Regulierungswütig, abgehoben, in Teilen „ausgesprochen unsympathisch“ kommt die Partei nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) rüber. „Das Engagement für klassische grüne Ziele stabilisiert den Kern der Anhängerschaft, führt aber zu einer Entfremdung von der großen Mehrheit“, schrieb Allensbach-Geschäftsführerin Renate Köcher. Im Gegensatz zu SPD und FDP haben die Grünen eine stabile Basis treuer Stammwähler. Doch wenn es klappen soll mit dem Kanzleramt, wird das nicht reichen.

RND/dpa



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