In seinem „Arbeitsjournal“ grenzt sich Rainald Goetz von seinem Mentor Michael Rutschky ab. Außerdem vergleicht er #MeToo und die 68er-Bewegung.
Der Schriftsteller Rainald Goetz kommt in den Tagebüchern des 2018 gestorbenen Essayisten Michael Rutschky – was in den Besprechungen der drei erschienenen Bände auch oft vermerkt worden ist – häufig vor. Frühe Essays hat Rainald Goetz, vermittelt durch Michael Rutschky, im Merkur veröffentlicht.
Außerdem war er bei Michael und Katharina Rutschky in ihrer Münchner Zeit privat intensiv zu Gast; teilweise als eine Art ideeller Sohn, zugleich hafteten sich libidinöse Energien an ihn. Bis ins späte Tagebuch hinein tauchen bei Michael Rutschky homosexuelle Fantasien mit ihm auf.
So weit ist das alles bekannt. Nicht bekannt war bislang, was Rainald Goetz darüber denkt. Doch das ändert sich jetzt. In dem „Arbeitsjournal Frühjahr und Herbst 2019“ – es ist die Zeit, in der er das dritte, postum erschienene Tagebuch liest – setzt sich Goetz mit Michael Rutschky auseinander.
Herausgekommen ist ein bemerkenswerter Text – trotz der Tagebuchform keine lockeren Notate, sondern sprachlich mit maximaler Kontrolle durchgearbeitet –, der sich vehement von Michael Rutschky abgrenzt und darüber zu prinzipiellen ästhetischen Positionen und auch solchen der Lebensführung kommt (und für jemanden wie mich, der ich Michael Rutschky auch ganz gut kannte, eine Herausforderung ist, weil er die Irritation über den dritten Tagebuchband, die sich inzwischen gelegt hatte, wieder voll aufruft).
Sein Lebensschicksal verstehen
Es ist keine Anklageschrift. Die Textbotschaft ist eher: Über die Vorwurfsebene bin ich hinaus. Deutlich ist diesem Journal aber eingeschrieben, wie sehr Rainald Goetz der dritte Tagebuchband beschäftigt hat.
Die Selbstentblößung, mit der Rutschky seine depressiven Momente ausstellt, und die brutalen Beobachtungen von Bekannten, die Rutschky notiert, beschreibt Goetz als fundamental falsch: „Schonungslosigkeit ist kein Konzept der Wahrheit, und exzessive Explizität dem eigenen Triebleben gegenüber […] keine gute Methode, sich selbst und das Lebensschicksal, das einem zugelost war, richtig zu verstehen.“
Etwas später heißt es: „Nicht schlecht über andere reden. Nicht bösartig scharf beobachten. Nicht zu viel über sich selbst nachdenken. […] Güte ist wichtiger als Radikalität.“ Das sind, wenn man bedenkt, dass Rainald Goetz’ eigenen Texten scharfe Attacken keineswegs fremd sind, teilweise überraschende Maximen.
Aber Goetz stellt das so dar, dass er mit öffentlichen Personen im Streit um das richtige und gegen das falsche Denken öffentlich scharf ringt, im Privaten jedoch auf Freundlichkeit setzt, während Michael Rutschky nach außen hin Verbindlichkeit und Kulturpessimismusabwehr pflegte, im Privaten des Tagebuchs dann aber Gift und Galle spuckte. Ein komplementäres Bild, in dem Goetz sich selbst vielleicht ein Spur zu gut wegkommen lässt.
Der Glutkern der Abgrenzung liegt aber in Wendungen wie „Bruch der Vertraulichkeit“ und „echter Verrat“. Rutschkys Essayistik sei „von Anfang an auf diesem Vampirismus begründet, andere zu Beispielfiguren der eigenen Theoriespekulation zu machen, sie dafür ausbeuterisch zu benutzen“, liest man. Hintergrund: Rainald Goetz fand das, was er in ihrer Freundschaftszeit Michael Rutschky privat erzählte, in dessen Texten wieder, und das in seiner Sicht auch noch verfälscht.
Wie die Freundschaft auseinanderging
Von dem Verratsvorwurf aus erzählt Goetz in einem sehr nahbaren Abschnitt, wie die Freundschaft auseinanderging. Er brauchte ein paar Jahre, um zu realisieren, wie falsch er Rutschkys Umgang mit seinen privaten Äußerungen fand, schreibt er. Dann zog er Konsequenzen: „Ich wehrte mich nicht, habe ihm aber nichts mehr von mir erzählt und mich innerlich langsam von ihm abgewendet.“
Was nachvollziehbar ist und sowieso sein gutes Recht. Die Wendung, von dieser unschönen Erfahrung aus Rutschky als Autor insgesamt als gescheitert zu erklären – „der Einzelfall-Soziologe war kein guter Reporter des realen Einzelfalls“ –, muss man dagegen nicht mitmachen. Die Begriffe, die er prägte, die Textformen, mit denen er experimentierte, bleiben inspirierend.
Diese Abschnitte des Arbeitsjournals sind wohl vor allem für Rainald-Goetz- und Michael-Rutschky-Philologen interessant, das aber sehr. Bekannte Kurt Scheels werden auch aufmerken, wobei der langjährige Herausgeber des Merkur und Bearbeiter des dritten Tagebuchbands, der Rutschky etwas „Unwohlwollendes“ attestierte (was Goetz zustimmend zitiert), als „falschen Freund“ bezeichnete und 2018 Suizid beging, hier zu eindeutig als Rutschky-Opfer erscheint.
Schönste Diskursrevolution seit 68
Es ist aber noch etwas anderes, was den Text über den engen Personenkreis hinaus geradezu zum Vibrieren bringt: Das ist die Gegenüberstellung von 68 und #MeToo, die den Text grundiert. An einer Stelle überlegt Goetz, ob Rutschkys Tagebuch nicht als „das essenzielle Dokument der Kaputtheit dieser Zeit, dieser Generation von 68, der gigantischen Enttäuschung durch das Altern, das Scheitern von Ambitionen“ gelten müsse.
#MeToo dagegen beschreibt er als „schönste Diskursrevolution seit 68“, verteidigt das „Hysterische“ im Kampf gegen das strukturelle Patriarchat – „es geht nur so, eine leisere Sprache versteht die Macht nicht“, und ein paar Seiten weiter: „öffentlich, streitig, wahnhaft rechthaberisch wird dabei verhandelt, […] wie die Menschen in jeder konkreten Interaktion einander begegnen wollen“.
Von diesem Arbeitsjournal aus könnte man tatsächlich einmal grundsätzlich über das Verhältnis von 68 und #MeToo nachdenken, Gegensätze beschreiben, aber auch Kontinuitäten sehen, allerdings vielleicht nicht nur gegen Rutschky, sondern teilweise auch mit ihm, schließlich hat Rutschky in sein 68er-Sein als Autor die prinzipielle Selbstkritik eingebaut und stets hochgehalten.
Insgesamt legt Rainald Goetz eine Lesart des Tagebuchs vor, die das Dunkle und „Kaputte“ maximal hervorhebt. In manchen Punkten, etwa der Einordnung des Lesekreises, irrt er. Bei anderen kann man seine unerschrockene Klarsicht bewundern, etwa wenn er notiert, dass die homoerotischen Stellen eben kein Coming-out darstellen: „in diesem Begriff geht das Extreme, Irritierende von dessen Aufzeichnungen zu seiner Sexualität gar nicht auf“, es sei vielmehr „ein forscherisch nach innen gerichtetes Bemühen um Verstehen des aufwühlend unverstandenen Trieblebens in ihm“.
Toll darüber hinaus manche Nebenbemerkungen, die abfallen – zum Thema Familie heißt es: „Familie ist eine hohe Kunst, die wahrscheinlich über mehrere Generationen hinweg entwickelt und erlernt werden muss.“
Mutig, aber auch gut, dass der Merkur dieses Journal jetzt in seinem Maiheft bringt.