Angesichts der eskalierenden Gewalt in Haiti haben der deutsche Botschafter und Diplomaten der EU den Karibikstaat verlassen. Der deutsche Botschafter und der Ständige Vertreter in der Hauptstadt Port-au-Prince seien “aufgrund der sehr angespannten Sicherheitslage in Haiti gemeinsam mit Entsandten der EU-Delegation in die Dominikanische Republik ausgereist”, teilte ein Sprecher des Auswärtigen Amts mit. Sie arbeiteten nun vom Nachbarland aus.

Zuvor hatte bereits das US-amerikanische Militär mehrere Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Es seien Truppen zum Botschaftsgelände geflogen worden, teilte das US-Südkommando mit. Zudem habe man nicht essenzielle Mitarbeiter ausgeflogen, haitianische Bürger seien dabei nicht transportiert worden. Mit dieser Information wollte das Militär offenbar Spekulationen entgegentreten, ranghohe haitianische Beamte könnten das Land verlassen. Die Gegend, in welcher die US-Botschaft liegt, wird größtenteils von Banden kontrolliert.

Die Gewalt der mächtigen Banden, die die Interimsregierung von Premierminister Ariel Henry stürzen wollen, legt große Teile Haitis
seit rund zehn Tagen lahm. Deren Mitglieder befreiten mehr als 4.500 Häftlinge aus zwei Gefängnissen und griffen unter anderem Einrichtungen der Polizei und Flughäfen an. Am Hafen von Port-au-Prince kam es zu Plünderungen. Nach einem Bericht des Portals AyiboPost zeigte die Polizei zuletzt kaum noch Präsenz in den Straßen der Hauptstadt, die beiden Flughäfen sind geschlossen.

Wie viele Menschen getötet wurden, ist
unklar. Die Washington Post berichtet von Leichen auf offener Straße,
die wegen der Sicherheitslage nicht bestattet werden konnten und
stattdessen verbrannt wurden. Fast die Hälfte der rund elf Millionen
Einwohner Haitis leidet laut den Vereinten Nationen unter akutem Hunger.

Karibische Staaten berufen Dringlichkeitssitzung ein

Eskaliert war die Lage, als sich Haitis Regierungschef auf einer Auslandsreise in Kenia
befand. Henry hätte
eigentlich Anfang Februar aus dem Amt scheiden sollen. Stattdessen verständigte er sich mit der Opposition darauf, bis zur Abhaltung von Neuwahlen “innerhalb von zwölf
Monaten” gemeinsam zu regieren.

Er hatte das Amt übernommen, nachdem Präsident Jovenel
Moïse 2021 in seiner Residenz ermordet worden war. Seitdem wurden keine
Wahlen abgehalten, Haiti hat derzeit weder einen Präsidenten noch ein
Parlament. Die frühere Besatzungsmacht USA – der viele Haitianer und
Beobachter nachsagen, Henry bislang im Amt
gehalten zu haben – forderte ihn in den vergangenen Tagen auf, den
politischen Übergang zu beschleunigen.

Für den Montag haben die karibischen Staats- und Regierungschefs zu einer Dringlichkeitssitzung über die Lage in Haiti aufgerufen. Zu dem Treffen in Jamaika wurden die USA, Frankreich, Kanada, die Vereinten Nationen und Brasilien eingeladen. Ob auch Henry teilnehmen wird, war zunächst unklar.

Die Gesundheitsversorgung ist beeinträchtigt

Der Leiter des Haiti-Büros der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Philippe Branchat, warnte unterdessen vor der Verschlechterung der humanitären Lage in Haiti. Die Bewohner der Hauptstadt Port-au-Prince lebten “eingesperrt”, die Stadt sei “von bewaffneten Gruppen und Gefahren umzingelt”, teilte Branchat mit.

Auch die Gesundheitsversorgung ist nach IOM-Angaben stark beeinträchtigt. Mehrere Krankenhäuser seien von Banden angegriffen worden, ärztliches Personal und Patienten hätten Kliniken verlassen müssen, unter ihnen neugeborene Babys. Mehrere Vertreter von UN-Organisationen in Haiti warnten in einer gemeinsamen Erklärung davor, dass 3.000 schwangere Frauen möglicherweise vom Zugang zu medizinischer Versorgung abgeschnitten seien. 450 von ihnen drohten ohne ärztliche Hilfe “tödliche Komplikationen”.

Haiti steckt seit Jahren in einer schweren Krise, zu der neben Bandengewalt auch politische Instabilität und wirtschaftliche Not gehören. Allein in den vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl der auf humanitäre Hilfe angewiesenen Menschen in dem Land nach UN-Angaben verdoppelt. Mehr als 300.000 Menschen sind in den vergangenen Jahren innerhalb des Landes vor der Gewalt geflüchtet.



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