Das Land war zugepflastert mit Plakaten, doch weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten ging wählen – möglicherweise sogar deutlich weniger.

Menschen an einem Tisch.

In einem Wahllokal am Freitag in Teheran

BERLIN taz | Wenn Ramin Schariati* an die Parlamentswahl vom Freitag in Iran denkt, wird er wütend. „Sie tischen uns Lügen um Lügen auf. Und warum? Um uns zu bestehlen. Um unsere Lebenszeit, unser Geld und unsere Heimat zu stehlen.“ Der 30-Jährige lebt in Teheran und sieht in der Machtelite der Islamischen Republik nichts als Verbrecher und Betrüger.

Schariati war einer der vielen Menschen, die während der „Frau, Leben, Freiheit“-Proteste im Jahr 2022 demonstrierten und inhaftiert wurden. Von der Freiheit, für die er auf die Straßen ging, ist das Land weit entfernt – auch wenn der Staat nun „Wahlen“ abgehalten hat. „Wir hätten gerne eine Wahl gehabt, an der wir teilnehmen können“, sagt Schariati. „Aber das war keine Wahl. Also nehmen wir auch nicht teil.“

Er steht mit seiner Meinung nicht allein. Es ist davon auszugehen, dass die meisten Menschen in Iran ähnlich denken und am Freitag nicht zur ersten Wahl nach den landesweiten Protesten gegangen sind. Iranische Nachrichtenseiten berichteten von einer Wahlbeteiligung von nur 41 Prozent, doch selbst daran gibt es Zweifel. Ein großer Teil in der Bevölkerung sieht es als Verrat an, in der Islamischen Republik an Wahlen teilzunehmen. Der Wahlboykott ist eines der wenigen Mittel, die Menschen noch haben, um ihrem Widerstand gegen den Staat Ausdruck zu verleihen.

Von verschiedenen Seiten hatte es im Vorfeld Boykottaufrufe gegeben. Ein Zusammenschluss von Studierendenorganisationen rief vor der Wahl dazu auf, sie nicht nur zu boykottieren, sondern das ganze System zu stürzen. „Die Islamische Republik kämpft um ihr eigenes Überleben“, hieß es in ihrem Statement, während die Bevölkerung ihr Ende herbeisehne. Das Regime habe „unmenschliche Bedingungen für Millionen von Menschen geschaffen“, so die Studierenden.

Auch Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi erklärte in einem Statement, ein Wahlboykott sei „nicht nur eine politische Notwendigkeit, sondern auch eine moralische Pflicht“.

Drohungen per Anruf

Im Vorfeld der Wahl hatte die Staatsführung klargemacht, als wie wichtig sie eine hohe Beteiligung erachtet. Mitte Februar erklärte Revolutionsführer Ali Khamenei die Bedeutung von Wahlen in der Islamischen Republik: „Wahlen sind eine Manifestation des Republikanischen Systems und deshalb sind die arroganten Mächte (Israel und der „Westen“, Anm. d. Red.) und die USA (…) gegen Wahlen und gegen die enthusiastische Teilnahme des Volks an den Wahlurnen.“

Das ganze Land war zugepflastert mit Wahlplakaten, mit denen die Menschen zur Wahl aufgerufen wurden. Berichten zufolge übte das Regime auf Teile der Bevölkerung auch direkten Druck aus. So sollen Leh­re­r:in­nen Anrufe bekommen haben mit der Drohung entlassen zu werden, wenn sie am Tag nach der Wahl nicht vorweisen können, gewählt zu haben.

Nicht nur deswegen sind Wahlen in Iran von demokratischen Prinzipien weit entfernt. Au­gen­zeu­g:­in­nen berichteten, dass an den Wahllokalen bewaffnete Milizen standen, aus Sorge vor Protesten. Für die 290 Sitze im Parlament, die neu besetzt wurden, standen überhaupt nur die loyalsten Kandidaten zur Wahl; im Vorfeld war 12.000 Personen die Kandidatur verwehrt worden.

Neben dem Parlament wurde auch der sogenannte Expertenrat wurde neu gewählt: ein Gremium, das der extremistischen Linie des Staats entspricht und für die Ernennung und Abberufung des Revolutionsführers zuständig ist. Bisher musste es nur einmal tätig werden, als es 1989 den immer noch amtierenden Führer Khamenei ernannte.

Mit seinen bald 85 Jahren ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der frisch „gewählte“ Expertenrat für die Ernennung des nächsten Revolutionsführers zuständig sein wird. Einen Hinweis, wie ideologisch auch der neue Rat ist, ist die Verwehrung einer erneuten Kandidatur des ehemaligen Präsidenten Hassan Ruhani, der schon 20 Jahre im Expertenrat saß. Selbst ein derart gestandener Mann des Systems schien nicht Hardliner genug zu sein.

Zweifel an offizieller Wahlbeteiligung

Erwartungsgemäß erklärten staatliche Stellen die Wahlen schon am nächsten Tag zum Erfolg. Nach ersten Teilergebnissen vom Samstag lagen die Hardliner, die das Parlament schon seit gut zwanzig Jahren kontrollieren, vorn. Die Wahlbeteiligung sei sogar höher gewesen als bei der letzten Parlamentswahl, zitierte die Nachrichtenagentur ISNA einen Sprecher des Regimes.

„Sie lügen“, kommentiert Masih Sepehri die angebliche Wahlbeteiligung von rund 41 Prozent. Die 34-jährige Ingenieurin berichtet, dass Leute sogar ohne Ausweis wählen durften. „Manche haben mit ihrer Bankkarte gewählt. Das Ganze war lächerlich.“ Am Tag nach der Wahl kursierten viele Videos, die leere Wahllokale zeigten. In Teheran, sagt Sepehri, schätzen oppositionelle Stimmen die Wahlbeteiligung sogar auf nur fünf Prozent.

Dass die 41 Prozent nicht der Wahrheit entsprechen, legen auch Umfragen nahe, die staatliche Stellen selbst vor der Wahl veröffentlicht hatten. Demnach sagten gerade einmal 27,9 Prozent, dass sie definitiv an den Wahlen teilnehmen würden, 36 Prozent erklärten, auf keinen Fall wählen zu gehen.

Schariati und Sepehri glauben, dass sich in der Geschichte der Islamischen Republik noch nie so wenige Menschen an Wahlen beteiligt haben. Das liege auch daran, dass es eine Parlamentswahl war, erklärt Schariati. Ein Großteil der Abgeordneten hatte sich im November 2022 dafür ausgesprochen, viele der im Zuge der „Frau, Leben, Freiheit“-Proteste inhaftierten Menschen hinzurichten.

„Wir geben unsere Stimme niemandem, der uns umbringen will“, so Schariati trocken. Diese Wahlen ändern ohnehin nichts. „Sie haben nie das getan, was wir uns wünschen“, sagt er. „Sie haben uns nie zugehört. Und das wird sich auch nicht ändern.“



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