Mit einem Großeinsatz der Polizei wurde in der vergangenen Woche ein leerstehendes ehemaliges Bürogebäude in der Pariser Vorstadt Vitry-sur-Seine geräumt, in dem sich zu diesem Zeitpunkt noch mehr als 300 Obdachlose befanden. Da der Einsatz gegen den größten »Squad« Frankreichs erwartet worden war, waren andere Insassen bereits abgezogen, um auf eigene Faust eine andere Notunterkunft zu suchen.
Das Gebäude, das 2021 von den Besitzern aufgegeben und geräumt wurde, soll in Kürze abgerissen werden, um einem Neubau Platz zu machen. Obwohl die Zugänge zugemauert und Strom und Wasser abgestellt worden waren, gelang es Obdachlosen, Zugang zu finden und sich hier provisorisch niederzulassen.
Zeitweise kampierten hier unter primitivsten Bedingungen bis zu 450 Menschen, bei denen es sich überwiegend um Ausländer handelte. Darunter waren sowohl Asylbewerber als auch Flüchtlinge ohne gültige Papiere, zumeist alleinstehende Männer, aber auch Familien mit Kindern.
Für die Hilfsvereine, die sich um Obdachlose kümmern, ist es kein Zufall, dass die Evakuierung fast genau 100 Tage vor Beginn der Olympischen Spiele stattfand. Sie sind überzeugt, dass mit solchen Aktionen »sozialer Bereinigung« noch rechtzeitig Schattenseiten des Stadtbilds von Paris getilgt werden sollen. Davon zeuge nicht zuletzt, dass den Menschen, die in Vitry ihr provisorisches Dach über dem Kopf verloren haben, eine Unterbringung in einem Heim oder Lager in der Provinz angeboten wurde – in diesem Fall entweder in Orléans oder in Bordeaux.
So hatte man in der Vergangenheit schon wiederholt spontan entstandene Notsiedlungen zumindest vorübergehend liquidiert, beispielsweise den »Dschungel von Calais«. Doch da es in den weit von der Hauptstadt entfernten Provinzstädten weder Arbeitsplätze für sie noch freie Sozialwohnungen gibt und kaum Strukturen für ihre Unterstützung, kehrten die meisten der Evakuierten früher oder später in die Pariser Region zurück.
Da sich das herumgesprochen hat, blieben diesmal in Vitry die von der Polizei für die Fahrt in die Provinz bereitgestellten Busse fast leer.
»Die meisten dieser Menschen haben gar keine andere Wahl, denn nicht wenige haben hier einen festen Job, oft sogar mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag«, sagt Célia Mougel von der Hilfsorganisation L’Observatoire. »Viele Familien haben Kinder, die hier zur Schule gehen. Damit verbinden die Eltern große Hoffnungen für die Integration und das wollen sie nicht aufs Spiel setzen. Die meisten arbeiten und verdienen genug Geld, um sich eine bescheidene Wohnung leisten zu können, aber private Eigentümer vermieten nicht an sie und auf eine Sozialwohnung muss man viele Jahre warten.«
So geht es beispielsweise dem aus Eritrea geflüchteten Mohammed Sayed, der als Elektriker beim Baukonzern Eiffage arbeitet und der drei Jahre in diesem Squad kampiert hat. Er schildert die menschenunwürdigen Bedingungen, dass es nur alte Matratzen auf dem Betonfußboden gab, kaum einmal elektrisches Licht. Die Duschen funktionierten selten und dann auch nur mit kaltem Wasser. »Froh war ich hier nicht, doch immerhin hatte ich ein Dach über dem Kopf«, sagt er. »Aber was soll jetzt werden?«
Die bevorstehenden Olympischen Spiele haben die Situation für notleidende und vor allem für obdachlose Menschen in Paris und Umgebung noch schwerer gemacht, als sie schon war, meint Paul Alauzy von der Soli-Kampagne Le Revers de la médaille (Die Kehrseite der Medaille). Schon für den Bau des Olympischen Dorfes und zahlreicher neuer Sportstätten mussten Notunterkünfte weichen, für die die Behörden zumeist keinen Ersatz bereitgestellt haben und wo dann Hilfsvereine einspringen mussten.
Das ist für die Organisationen noch komplizierter als in früheren Jahren, denn seit am 31. März die gesetzliche Winter-Schonzeit für Mietschuldner geendet hat, schnellte die Zahl der Exmittierungen auf etwa 130 Prozent früherer Jahre in die Höhe. Dahinter steht das Bestreben vieler Immobilienbesitzer, ihre Wohnung noch rechtzeitig zurückzubekommen, um sie zu Höchstpreisen an ausländische Olympia-Besucher vermieten zu können.
Je mehr jetzt die Spiele nahen, umso intensiver wird »sozial bereinigt«. So setzt die Polizei seit einigen Wochen akribisch das gesetzliche Bettel-Verbot durch, über das gewöhnlich hinweggesehen wird. Die Ordnungshüter machen auch systematisch Jagd auf illegale Straßenhändler, die Touristen Souvenirs anbieten. Das sind meist ausländische Flüchtlinge, die noch keinen anderen Job gefunden haben und die von Großhändlern, die ganze Netze solch fliegender Händler betreiben, skrupellos ausgebeutet werden.
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