Der Footballstar O. J. Simpson ist gestorben. Bekannt wurde er durch einen Mordprozess, der die Gräben zwischen Schwarzen und Weißen zeigt.

OJ Simpson verlässt eine Limousine vor Gericht, umringt von Polizisten.

Ins Gefängnis hat O.J. Simpson nicht der Mord, sondern ein versuchter Raubüberfall gebracht. Hier stand er 2008 vor Gericht Foto: sportfotodienst/imago

Meine Beziehung zu dem ehemaligen Footballspieler Orenthal James (O. J.) Simpson reicht bis in die 1970er Jahre zurück. Ich wuchs im Hudson Valley auf und wurde Fan, als ich beobachtete, wie er die gegnerische Abwehr durchbrach und für die Buffalo Bills über das Feld rannte.

Meine Bewunderung war der Grund dafür, dass ich mich 1973 oder 1974 – ich muss damals zehn Jahre alt gewesen sein – allein auf den Weg zur Saratoga County Fair machte, die einige Blocks von meinem Elternhaus entfernt stattfand. Simpson sollte dort Autogramme verteilen. Ich stand ganz vorne in der Schlange, die immer länger wurde.

Dann tauchte O. J. auf. 1,85 Meter groß und gut aussehend. Er stieg in einem 1970er-Leisure-Suit im weißesten Weiß aus einem kleinen Wohnwagen aus Aluminium. Unter einem Pavillon gab er Autogramme, ich bekam eines und schaute noch eine Weile zu.

Völlig unterschiedliche Wahrnehmung

Irgendwann brach ohne erkennbaren Grund die Menge auseinander, und die Menschen stürmten den Pavillon. O. J. schwang sich über das Geländer, landete anmutig, joggte zum Wohnwagen und verschwand darin. Die Menge stürzte sich auf den Wohnwagen und begann ihn zu schaukeln! Mit O. J. und allen, die sich darin befanden! Schließlich tauchte die Polizei auf und zerstreute die Menge.

78 Prozent der Schwarzen glaubten laut einer CBS-Befragung, dass Simpson von der rassistischen Polizei reingelegt wurde. Die weiße Bevölkerung schockierte und verblüffte das. 75 Prozent der Befragten hielten Simpson für schuldig.

Danach habe ich lange nicht über den Vorfall nachgedacht – ebenso wenig wie über O. J. Simpson oder den US-Football – bis der Mordprozess gegen Simpson 1994 in die Nachrichten kam. Die Staatsanwaltschaft behauptete, Simpson habe seine Ex-Frau Nicole Brown und deren Freund Ron Goldman erstochen. Ich blieb auf dem Laufenden – es war schwer, es nicht zu tun, selbst von Europa aus. Was ich nicht erwartet hatte, war, dass etwas Tiefgreifendes und Beunruhigendes über die USA enthüllt würde: nämlich die völlig unterschiedlichen Wahrnehmungen weißer und Schwarzer US-Amerikaner in Bezug auf die Strafverfolgung und das Strafrechtssystem des Landes.

78 Prozent der Schwarzen glaubten laut einer CBS-Befragung, dass Simpson von der rassistischen Polizei reingelegt wurde. Die weiße Bevölkerung schockierte und verblüffte das, 75 Prozent der Befragten hielten Simpson für schuldig. Als liberaler weißer Mann der Mittelschicht wusste ich sehr wohl, dass der Rassismus in den USA tief verwurzelt ist und dass Schwarze Amerikaner seit Jahren Opfer rassistischer Polizeikräfte sind.

Von den Lynchmorden, die bis in die 1960er Jahre hinein stattfanden, bis hin zum Fall von ­Rubin Carter. Carter saß jahrelang im Gefängnis für einen Mord, den er nicht begangen hatte. Und natürlich wurde 1991 der brutale Angriff von Rodney King mit der Kamera aufgezeichnet. Jeder konnte sehen: King wurde von weißen Beamten des Los Angeles Police Departments schwer misshandelt.

Aber dennoch wären die Beweise gegen Simpson erdrückend, dachte ich während des Prozesses. Schließlich gab es übereinstimmendes Blut, Haare und Fasern, die Simpson mit den Morden in Verbindung brachten. Am Tatort in Los Angeles wurden blutige Fußabdrücke in seiner Größe gefunden und ein Handschuh, der genauso aussah wie der, den seine getötete Ex-Frau gekauft hatte und den er bei im Fernsehen übertragenen Footballspielen trug. Ein weiterer Handschuh, der mit seinem Blut und dem der Opfer verschmiert war, wurde in Simpsons Haus gefunden.

Rassistische Polizeigewalt

Doch das Misstrauen der Schwarzen Amerikaner gegenüber dem System war so groß, und sie hatten so schreckliche Erfahrungen mit der Polizei gemacht, dass sie überzeugt waren, dass Simpson hereingelegt worden war: ein weiterer Schwarzer Mann, der aufgrund seiner Hautfarbe vom System verfolgt wurde. Es hat mir die Augen geöffnet, wie Schwarze Amerikaner die Dinge durch eine völlig andere Brille sehen als weiße Amerikaner, selbst meine Familie und Freunde.

Noch nie zuvor war in den USA die tiefe kulturelle Spaltung zwischen weißen und Afroamerikanern so deutlich zutage getreten. Auch heute noch, obwohl 30 Jahre vergangen sind, ist der Fall O. J. sehr bedeutsam für das Verständnis der USA. Ein Smartphone-Video rassistischer Polizeigewalt gegen Afroamerikaner nach dem anderen dokumentiert das Phänomen. Der bekannteste Fall: die Ermordung von George Floyd im Jahr 2020 durch einen weißen Polizeibeamten aus Minneapolis. Diese Fälle haben die Kluft noch tiefer werden lassen.

Und das ist ein Grund, warum Präsident Biden bei den Wahlen einen so schweren Stand hat. Schwarze Amerikaner wollen einem weißen Mann nicht ihre Stimme geben, nur weil der andere eine noch schlechtere Option ist. Umfragen zeigen, dass die Rate der Zustimmung für Biden unter Schwarzen Wählern seit Anfang 2023 um fast 20 Punkte gesunken ist. Die Regierung Biden weiß aber, dass sie 90 Prozent der afroamerikanischen Stimmen braucht, um zu gewinnen.

Sie rühmt sich damit, dass Biden eine Schwarze Frau in den Obersten ­Gerichtshof berufen und politische Maßnahmen ergriffen hat, die die ­Ungleichheit zwischen Schwarzen und weißen US-Amerikanern verringern sollen, etwa die Unterstützung von Unternehmen in Schwarzem Besitz, die Erweiterung des Zugangs zu Wohnraum, die Verbesserung der Bildungschancen und Regelungen zur Beseitigung der Ungerechtigkeiten in der Gesundheitsversorgung und im Bildungswesen.

Aber Afroamerikaner sehen das anders. Der Mordprozess erinnerte mich an den wütenden Mob, den ich in den frühen 1970er Jahren hinter Simpson herlaufen sah. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass weiße Footballfans, die an einem Autogramm interessiert waren, aus heiterem Himmel einen rassistischen Angriff auf einen afroamerikanischen Starspieler starten würden. Aber vielleicht liegt das daran, dass ich weiß bin.

Aus dem Englischen von Ann-Kathrin Leclère



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