Die Verwirrung stand Robert Habeck ins Gesicht geschrieben. Der Wirtschaftsminister der Grünen ist derzeit in den USA unterwegs, wo es um die ganz großen Themen geht: Die wechselseitigen Investitions- und Handelsbeziehungen etwa, oder auch die zukünftige Zusammenarbeit bei der Raumfahrt. Dass sich Habeck da auf der Weltbühne, zwischen einem Besuch in Washington, D.C. und einem Trip zu den Vereinten Nationen in New York, zu diesem lästigen Bericht des Bundesrechnungshofes zur Energiewende äußern muss, passte nicht so recht ins Bild.
Aber es hilft ja nichts, die deutschen Journalisten fragen danach, also ab dafür. Von einer „erstaunlichen Wahrnehmung“ des Rechnungshofes sprach Habeck da, „die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.“ Deutschland sei natürlich noch nicht „durch“, wie Habeck es formulierte, aber nach seinem Dafürhalten gehe es doch voran mit der Energiewende, „der Ausbau hat mächtig Fahrt aufgenommen“.
„Zahlreiche Lücken in der Argumentation“
Beinahe säuerlich klang Habeck in seinen Ausführungen, und das hat seinen Grund. Am Donnerstag nämlich hatte der Bundesrechnungshof einen scharfen Bericht zur Energiewende veröffentlicht, der insbesondere der Ampel-Regierung ein schlechtes Zeugnis ausstellte. Die bisherigen Maßnahmen zur Umsetzung der Energiewende seien ungenügend, das ganze Projekt drohe zu scheitern, ja sogar die Versorgungssicherheit des Landes sei gefährdet, hieß es in dem alarmierenden Bericht.
In der Medienwelt sorgte die Analyse für Aufregung, die Opposition schlachtete sie genüsslich aus. Unter Experten und Branchenvertretern löste der Bericht eher eine Mischung aus Stirnrunzeln und Achselzucken aus. Es handle sich um „ein ziemlich redundantes Aufzählen und Summieren bekannter Tatsachen, vorgetragen in sehr scharfer Sprache und mit zahlreichen Lücken in der Argumentation“, urteilte der Energiemarkt-Experte Christoph Maurer von der Universität Erlangen-Nürnberg und der Beratungsgesellschaft Consentec am Freitag in der Wirtschaftswoche .
Verdutzte Verbände
Tatsächlich sind in dem 58 Seiten umfassenden Bericht einige Unstimmigkeiten zu erkennen. Seitenlang warnt der Bundesrechnungshof etwa vor einer Versorgungskrise, wirft der zuständigen Bundesnetzagentur vor, in ihren Kalkulationen lediglich auf optimistische „Best Case“-Szenarien zu vertrauen – was allerdings nicht stimmt, wie auch die Netzagentur klarstellt.
Dann warnt der Rechnungshof vor möglichen Versorgungslücken bei einem Kohleausstieg 2030, wenn die geplanten neuen Gaskraftwerke bis dahin nicht stehen. Das wiederum veranlasste den verdutzten Branchenverband BDEW zu einer Richtigstellung per Pressemitteilung: Kraftwerke lassen sich in Deutschland nicht einfach so abschalten, ohne zuvor die Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit zu überprüfen, dafür gibt es ein geordnetes Verfahren. Wenn sich die Ersatzkraftwerke verschieben, verschiebt sich also auch der Kohleausstieg, wenn nötig.
Auch einige der verwendeten Daten lassen Fragen offen, Zahlen für die Erzeugung aus Erneuerbaren Energien waren teilweise zu niedrig angesetzt . An einer Stelle begründet die Behörde ihre Kritik zur Versorgungssicherheit unter anderem mit einer Studie im Auftrag der EU aus dem Jahr 2022, die die EU allerdings wegen schwerer methodischer Mängel ablehnte – was die Verfasser des Berichts auch selbst in einer Fußnote einräumen. Dass der Präsident des Bundesrechnungshofes jahrzehntelang für die CDU arbeitete und mit einer Lobbyistin des russischen Gas-Konzerns Gazprom verheiratet ist, passt da für Kritiker ins Bild.
Allerdings: Der Bericht spricht auch drei unbestritten große Hürden für die deutsche Energiewende an. Was sind diese Hürden – und wie lassen sie sich lösen?
Problem Nummer 1: Das Netzproblem
Der ganze schöne grüne Strom nutzt nur wenig, wenn es keine Kabel gibt, um ihn zu transportieren. Mit der Energiewende verändern sich auch die Zentren der Stromerzeugung. Früher standen wenige, große Kraftwerke nah bei den Bevölkerungs- und Industriezentren der Republik. In Zukunft jedoch wird der größte Stromerzeuger nicht mehr ein Kohlekraftwerk im Ruhrgebiet sein, sondern ein riesiger Offshore-Windpark in der Nordsee. Hinzu kommen Solar- und Windparks sowie die sogenannte „dezentrale Stromversorgung“: Hunderttausende Photovoltaikanlagen auf Haus- und Hallendächern, die alle ans Stromnetz angeschlossen werden müssen – und somit alle eine Leitung brauchen, wo vorher keine war.
Vor allem vom Norden, wo die großen Windparks stehen, in den Süden braucht es also neue Leitungen. Dort hinkt Deutschland aber sechs bis sieben Jahre hinterher. Leitungen, die jetzt schon fertig sein sollten, werden wohl erst 2030 fertiggestellt werden – wenn alles glatt läuft. Unter der Ampel-Regierung sei die Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit so groß wie nie, schreibt der Rechnungshof in seinem Bericht – mittlerweile hänge die Bundesrepublik ganze 6000 Kilometer und sieben Jahre hinter Plan.
An der Grafik des Bundesrechnungshofs lässt sich aber auch erkennen: Die Rekordlücke liegt vor allem daran, dass die Kurve beim Plan so steil nach oben gegangen ist – und weniger daran, dass es beim Ausbau an sich nicht voranginge. Der hat sich in den letzten Jahren tendenziell sogar beschleunigt, unter anderem dank bürokratischer Erleichterungen. Allerdings reicht das Tempo noch immer nicht aus.
Die siebenjährige Verspätung hängt auch mit Sünden der Vergangenheit zusammen: Vor allem in Bayern protestierten Naturschutzverbände und Bürgerbewegungen gegen die Verlegung großer, überirdischer Stromautobahnen. Die CSU stellte sich an die Seite der Demonstranten – und setzte 2015 bei einem Krisengipfel im Bundeskanzleramt durch, dass die Überlandleitungen unter die Erde verlegt werden mussten. Damit seien „sämtliche Monstertrassen vom Tisch“, verkündete der damalige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer. Die jahrelangen Planungsarbeiten für die wichtigen Nord-Süd-Trassen Südlink und Südostlink waren Geschichte, alle Projekte mussten neu konzipiert werden. Nach Angaben der Bundesnetzagentur wird Südlink nun wohl erst im Jahr 2028 fertig, bei Südostlink ist 2027 angepeilt.
Was getan werden muss: Bauen, bauen, bauen – und den Prozess so reibungslos wie möglich gestalten. Erst Anfang des Monats legte die Bundesnetzagentur ihren großen neuen Ausbauplan vor , 4800 Kilometer neue Leitungen sollen alleine an Land gebaut werden, 2500 Kilometer vorhandener Leitungen sollen verstärkt werden. Branchenverbände loben die Pläne, fordern aber: Für Investoren müssen sichere Rahmenbedingungen geschaffen werden. Das bedeutet auch, dass opportunistische Politiker sich nicht mit Protesten gegen neue Stromtrassen profilieren sollten.
Problem Nummer 2: Das Windproblem
Der Ausbau der Solarenergie in Deutschland verläuft derzeit im Rekordtempo – bei der Windkraft sieht die Lage schlechter aus. Zwar zieht auch hier das Tempo in Deutschland an, jedoch noch lange nicht in ausreichender Geschwindigkeit. Im letzten Jahr waren insgesamt 2,9 Gigawatt Windenergie an Land zugebaut worden. Um die Ausbauziele für 2030 zu erreichen, sind ab jetzt 7,7 Gigawatt pro Jahr nötig. Ein schwieriges Unterfangen, wie der Bundesrechnungshof anmerkt.
Vor allem die Bürokratie macht hier den Projektbetreibern zu schaffen. Genehmigungsverfahren sind langwierig, und selbst Dinge wie der Transport von Windrädern zur Baustelle sind in Deutschland ein echtes Abenteuer im Paragrafen-Dschungel. „Das ist ein totales Durcheinander“, sagte Giles Dixon, Chef des europäischen Branchenverbands Wind Europe, Ende Februar der Nachrichtenagentur dpa. Jedes Bundesland habe seine eigenen Regeln. Zwar sei das auch ein Problem in anderen Ländern, sagte Dickson. „Aber es ist nirgendwo so schlimm wie in Deutschland.“ Bis zu neun Jahre kann es bei einem Windpark von der Konzeption bis zur Inbetriebnahme dauern.
Ähnlich wie überirdische große Stromnetze rufen Windkraftanlagen auch Widerstände in Teilen der Bevölkerung hervor. Im südostbayerischen Chemiedreieck etwa, einem der wichtigsten Industriegebiete des Freistaats, torpedierten die Bewohner des kleinen Dorfes Mehring per Bürgerbefragung den Bau eines großen Windparks. Projektbetreiber und Lokalpolitik verpassen es oft, die Bevölkerung in den Prozess miteinzubeziehen, etwa durch eine finanziell lohnende Form der Bürgerbeteiligung. Nicht selten ist die Folge verschwendete Zeit – und verschwendetes Geld.
Was getan werden muss: Die Ampel-Regierung hat mittlerweile mehrere Initiativen auf den Weg gebracht, um bürokratische Hürden abzubauen, etwa wenn es um Prüfungen zur Umweltverträglichkeit geht. Das „Wind an Land“-Gesetz aus dem letzten Jahr schreibt außerdem verpflichtende Ausbauziele für alle Bundesländer vor – und gibt dem Bund die Möglichkeit, Mindestabstands-Regeln der Länder einfach einzukassieren. Klar ist aber auch: Viele Projektbetreiber müssen noch lernen, dass sich Windparks besser mit der Bevölkerung bauen lassen als gegen sie.
Problem Nummer 3: Das Strategieproblem
Die sogenannte „Kraftwerksstrategie“ ist so etwas wie der Notfall-Generator der deutschen Energiewende. Mit Speichern, digitaler Netzsteuerung, dem europäischen Stromhandel und weiteren technischen Innovationen ist ein Stromsystem, das zum überwiegenden Teil auf Erneuerbaren Energien aufbaut, sowohl technisch machbar als auch finanziell langfristig günstiger. Ein Problem jedoch bleibt: In den Perioden sogenannter „Dunkelflauten“, wenn mehrere Tage am Stück zu wenig Wind weht und kaum die Sonne scheint, gerät auch das durchdachteste grüne Stromsystem an seine Grenzen.
Solche Dunkelflauten sind zwar selten. Nach Daten des Deutschen Wetterdiensts kommt es etwa zweimal im Jahr zu Phasen, in denen länger als 24 Stunden kein Wind weht und keine Sonne scheint, in den allermeisten Fällen dauern die Phasen auch nicht länger als 48 Stunden. Aber vorbereiten muss sich das deutsche Stromsystem auf solche Fälle dennoch. Und hier kommt die Kraftwerksstrategie ins Spiel.
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Ein flächendeckendes Netz neuer Gaskraftwerke soll in den Dunkelflauten kurzfristig einspringen und den benötigten Strom zuliefern, bis die Dunkelflaute wieder vorüber ist. Nach der Vorstellung der Ampel-Koalition sollen sich diese Kraftwerke mittelfristig auf den Betrieb mit grünem Wasserstoff umrüsten lassen – damit sie ebenfalls klimaneutral arbeiten.
Das Problem ist jedoch: Für Energiekonzerne wäre der Bau und der Betrieb solcher Kraftwerke ein gewaltiges Verlustgeschäft. Denn ein Kraftwerk, das nur für wenige Tage im Jahr einspringen soll, kann sich wirtschaftlich gar nicht rechnen. Der Bau dieser Kraftwerke muss den Betreibern also finanziell versüßt werden. Wie das am besten gelingen soll, darüber gehen in der Ampel-Koalition die Meinungen auseinander.
Nach mittlerweile jahrelanger Verzögerung hat das Bundeswirtschaftsministerium im Februar einen ersten Plan vorgelegt: Ein Teil der nötigen Kapazitäten soll wohl direkt vom Staat finanziert werden, ein anderer Teil soll auf dem freien Markt vergütet werden, mit einem sogenannten Kapazitätsmechanismus. Die Details dazu sind allerdings noch unklar, eine genaue Ausarbeitung könnte Jahre in Anspruch nehmen.
Das Wirtschaftsministerium könne seinen ehrgeizigen Zeitplan „voraussichtlich nicht einhalten“, merkt der Bundesrechnungshof an. Denn jetzt müssen vor allem Grüne und FDP sich bei den zahlreichen offenen Detailfragen einig werden, dann muss die EU-Kommission noch ihren endgültigen Segen geben. All das kann dauern. Tatsächlich hatte sich Habecks Ministerium mit der Ausarbeitung der Kraftwerkstrategie Zeit gelassen, ursprünglich war sie im Februar 2022 angekündigt worden. Doch in den Wirren der russischen Invasion der Ukraine hätten sich die Prioritäten geändert, heißt es aus Ministeriumskreisen.
Was getan werden muss: Im Prinzip müssen sich vor allem Grüne und FDP schnell an die Arbeit machen – und dann noch die EU-Kommission überzeugen. Technisch machbar ist der Plan noch: Von der Planung bis zur Inbetriebnahme eines Gaskraftwerks liegen im Schnitt sechs Jahre. Die ausführenden Unternehmen brauchen dafür allerdings Planungs- und Investitionssicherheit.
Einige Unternehmen gehen schon voran: In baden-Württemberg etwa funktioniert der Energieversorger EnBW insgesamt drei alte Kohlekraftwerke in zukunftsträchtige Gaskraftwerke um . Jetzt muss nur noch die Politik folgen.