Früher
sind wir zweimal im Jahr zum Shoppen in die nächste Kreisstadt gefahren, meine
Mutter hat mir gemeinsam mit einer Verkäuferin Hosen ausgesucht, die ordentlich
aussahen, und mich damit in die Umkleide geschickt. Wenn ich ein paar Minuten
später unsicher und schwitzend den schweren Vorhang aufzog, standen beide davor
und musterten mich von oben bis unten, um festzustellen, ob die Hose auftrug. “Darf
ich mal”, fragte mich die Angestellte dann, um entweder routiniert den Finger
zwischen Bund und Bauch zu schieben und nachdrücklich über die außergewöhnliche
Elastizität der Jeans zu sprechen, oder um mir, die Hände auf meinen Brüsten,
statt des ersten Spitzen-BHs doch noch mal die buntgemusterten Bustiers aus
Baumwolle zu empfehlen.

Noch
heute spüre ich die Anspannung im Körper, wenn ich an diesen quälenden Moment zwischen
kritischer Musterung und Urteilsspruch denke. Unter den Blicken meiner Mutter
und der Verkäuferin verwandelten sich Pausbacken, Brüste, Bauch und
Oberschenkel in Problemzonen. Das Wort wurde nie laut ausgesprochen, und
doch wurde mir mit jedem Ganzkörper-Check dessen Bedeutung immer deutlicher
gewahr. Gerade weil es nie ausgesprochen wurde, dachte ich lange, ich hätte
diese Mangelhaftigkeit selbst entdeckt, ich hätte den misogynen Selbsthass
eigenständig entwickelt – nur um viel später festzustellen, dass ich damit
nicht alleine war.

Nichts
hat mich besser auf die Blicke der Männer, auf den omnipräsenten male gaze vorbereitet,
als die Stunden in den Umkleidekabinen der Kreisstadt: Mom’s gaze war
zuerst da.

Inzwischen
kaufe ich nicht nur meine Jeans selbst, ich habe mein Studium abgeschlossen,
wohne in einer anderen Stadt und bewege mich in Kontexten, in denen die
Hashtags SelfLove und BodyPositivity ernst genommen werden. Doch sobald ich bei
meiner Familie zu Besuch bin und meiner Mutter im Flur begegne, verhärtet sich
etwas in mir, und innerlich wappne
ich mich schon für den Spruch, der unweigerlich folgen wird. “Die Hose ist aber arg
kurz.” Oder: “Oh,
die Farben zusammen?” Bei den Müttern meiner Freundinnen drehen
sich die Sprüche um Augenringe oder einen fettigen Haaransatz oder die
schlechte Haltung oder ungepflegte Fingernägel.

Unsere
Mütter werden in solchen Augenblicken zum Medium. Sie wollen uns, ihre Töchter (oder
falls Tanten oder Großmütter sprechen: ihre Nichten und Enkelinnen), beschützen,
indem sie versuchen, uns anzupassen. Dabei geht es nicht um ihren eigenen
Geschmack – sie antizipieren, was uns draußen in der Welt erwarten könnte, wie wir am wenigsten
auffallen, um uns ja nicht zum
Gesp
ött
zu machen. Wir alle kennen die Blicke, die uns von oben bis unten scannen und
innerhalb weniger Sekunden erkennen, was an uns gerade nicht stimmt.

Selbst
die, die nie in einer stickigen H&M-Filiale gestanden sind und mit elf
Jahren Stretch-Jeans anprobieren mussten, bleiben nicht davon verschont: Leslie Mann, Schauspielerin und Mutter von Iris Apatow, kommentierte vor knapp fünf Jahren auf
Instagram
ein Bild ihrer damals 16-jährigen Tochter mit den Worten:Under eye concealer too light. (Kuss-Emoji)
mom
“.
Über sechstausend Menschen gefiel der Kommentar.

Iris
Apatow wusste mit Sicherheit, wer sich hinter dem Instagram-Account @lesliemann
verbirgt, das “mom”
am Ende des Kommentars war also eigentlich nicht notwendig. Leslie Mann bestand
jedoch offenkundig auf mom,
weil erst die Mutterrolle ihre Äußerung rechtfertigte. Dieses Wort macht aus
unverlangter Kritik mütterliche Fürsorge, die — weil sie ja nur das Beste für
ihr Kind im Sinn hat — jederzeit geäußert werden darf, auch vor Tausenden
Mitleser:innen. Iris antwortete ihrer Mutter damals auf Instagram: “Eine SMS wäre nett gewesen.”





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