Bevor es an diesem Abend bei Markus Lanz um Europa gehen kann, um das Grundgesetz oder die Rente, muss es um etwas geringfügig noch langwierigeres gehen, nämlich um: die Ewigkeit. Gefühlt sitzt diese Ewigkeit da höchstpersönlich auf zwei Stühlen neben dem des Moderators. Franz Müntefering und Gerhart Baum sind zu Gast – 84 Jahre ist der eine, 91 der andere, zusammen macht das 175, was fast dem Alter des vermutlich ältesten lebenden Reptils der Erde entspricht, einer Seychellen-Riesenschildkröte namens Jonathan.

Aber was sind schon Zahlen? Viel klarer wird die Dimension des Lebens von Baum und Müntefering, wenn man sich anderes bewusst macht. Gerhart Baum floh im Februar 1945 an der Hand seiner Mutter aus dem lodernden Dresden. Franz Müntefering hat noch Erinnerungen daran, wie er als Kind Gasmasken auf dem heimischen Küchentisch liegen sah und wie zu seinen Zuständigkeiten gehörte, allabendlich die Fenster mit dunklem Papier abzudichten, damit die Flugzeuge oben am Himmel nicht sehen konnten, wo da unten auf der Erde Licht, wo also Leben war. Wie blicken zwei solchen Menschen im Jahr 2024 auf ihr Leben, auf das Sterben, den Tod?

Über Franz Müntefering sagt Lanz angenehm beiläufig, er sei “zwei Jahre ziemlich böse krank” gewesen. Und der erste Satz, den der also 84-jährige Müntefering darauf in dieser Sendung sagt ist: “Ich bin auf dem Weg nach oben.” Man hört und glaubt es gern und dann sagt Müntefering, er habe “eigentlich keine Angst vorm Sterben”, weil für das Sterben gelte “merkst nichts von, haste nichts von, biste weg”, ja, “der Tod is gar nix”.

In diesem Sauerland State of Mind geht es sehr erfrischend weiter. Er wolle noch was vom Leben haben und nicht trübselig werden, so Müntefering, nur würde er diese Einstellung nicht Leichtigkeit nennen, “es hat eine gewisse Normalität”. Und darüber solle man doch auch sprechen, auch im Fernsehen, denn der Tod wanzt sich irgendwann an jeden ran, von ehemaligen Vizekanzlern und Innenministern bis zu Seychellen-Riesenschildkröten, “und da muss man eine vernünftige Antwort finden drauf”.

“Wollen wir über Politik reden?”

Wie die Antwort von Gerhart Baum darauf lautet, ist zunächst nicht zu erfahren. Die Redaktion von Lanz blendet zwar als Anregung das Bild eines verkohlten Hubschrauber-Wracks aus dem Jahr 1974 ein, in dem sich – wie sich nun herausstellt – Gerhart Baum befand. Eine Sturmböe schmiss den Hubschrauber nach der Landung um, “die Flammen schlugen schon in die Kabine”, es klingt alles doch sehr knapp und sehr dramatisch auch in der Rückschau.

Aber Gerhart Baum sagt: “ja, ja”, als wolle, nein, als könne er sich mit solchen Lappalien wie einer Nahtoderfahrung tief in den Siebzigern nicht weiter aufhalten. Zwar sagt er, er wolle nicht, “dass der Tod Herrschaft über mein Leben hat”, aber vor allem vermittelt er dem Moderator, dass es ihm auch im höchsten Alter um mehr und Wichtigeres gehe als sich selbst. Nach einer Viertelstunde tut Lanz seinen Gästen den Gefallen und fragt: “Wollen wir über Politik reden?”

Schade eigentlich. Bis hierhin ist das Doppel Baum/Müntefering ein kleines Lagerfeuer des Lebens gewesen, ein Hybrid aus Fielmann-Werbung und Altherren-Skatrunde, bei der Lanz für einen unbekannten Dritten eingesprungen ist. Nun, im politischen Teil, folgt ein Parforceritt durch die gegenwärtigen Bedrohungslagen des Landes, des Kontinents wie der Welt.

Natürlich hört man Müntefering und Baum auch dabei gerne zu, weil sie parteiunabhängig in geradezu unglaublicher Weise verdiente Leistungs- wie auch Sympathieträger einer Demokratie sind, die im Sinne der BRD am Tage der Ausstrahlung dieser Sendung das 75-jährige Bestehen ihres Grundgesetzes feiert.

Doch sind es etwas viele Themen, die Markus Lanz in der Hoffnung auf viral ansteckende Zitate in der folgenden Stunde ansticht und abfragt – von der demographisch realen und damit politisch drohenden Gerontokratie über die brennende Sorge um den Frieden in der Welt bis hin zu möglichen Indiskretionen der alten Fahrensmänner gegenüber wichtigen Parteigranden wie Schröder respektive Lindner.

Wenn Besprechen zunehmend zum Selbstgespräch wird

Ohne daraus etwas ausführlich herauszugreifen wie zum Beispiel beider Urteile über Bundeskanzler Olaf Scholz (Müntefering: “Er hat eine Fähigkeit, zuversichtlich zu sein in den Dingen, die er tut”, Baum: “Na, der wird sich noch wundern”) abschließend lieber ein Aspekt, der im Grunde alles mit allem verbindet, jedenfalls die meisten Ängste um die Zukunft. Man müsse reden und sich engagieren, geben Baum und Müntefering zu Protokoll, nur, wer bekomme davon eigentlich noch etwas mit in einer medial atomisierten Welt, wer also – so fragt es Franz Müntefering: – “ist eigentlich die Öffentlichkeit? … Oder ist das nicht mehr da?” Es hilft ja nicht, alle Probleme und mögliche Lösungen toll zu besprechen in Zeitungen oder im Fernsehen, wenn dieses Besprechen zunehmend ein Selbstgespräch werden sollte einer zu kleinen Gruppe.

Eine nach 23 Uhr ausgestrahlte Talksendung wird dieses Problem nicht unmittelbar lösen und es ist, wie gesagt, vieles in ihr auch nur oberflächlich angerissen worden. Aber man schaltet am Ende aus in einem doch irgendwie guten Gefühl. Die An- und Einsicht ist nicht neu, aber sie bleibt wohltuend: Es ist schön, dass die Staatsform der Demokratie – vor welchen Herausforderungen sie auch stehen mag – Leute wie diese beiden hervorgebracht hat, die noch im vergleichsweise biblischen Alter sich für sie einsetzen als wären sie Avengers. Auf den beiden Stühlen neben Lanz sitzt vielleicht nicht die Ewigkeit, aber es sitzen da Captain Baum und Iron Münte und sie kommen hoffentlich noch einige Male wieder.



Source link www.sueddeutsche.de