Ich weiß, Sie lieben Ihren Hund. Aber bitte stellen Sie sich doch einmal dieses Szenario vor. Ein Ihnen unbekannter Mann, der ein »Stechmesser mit gut 20 cm langer Klinge« in seiner Hand hält, nimmt Ihnen Ihren Bello weg und verfährt vor Ihren Augen mit ihm wie folgt: »Knapp unter dem linken Ohr ansetzend zieht er die Klinge tief im Fleisch bis zum anderen Ohr und schneidet (…) so beide Halsschlagadern durch. Sofort ergießt sich ein Blutstrahl auf den Boden (…) Anschließend trennt der Mann den Kopf vom Rumpf ab (…) Das körperwarme Blut dampft und fließt aus dem kopflosen Körper durch eine Abflussöffnung im Boden in einen Spezialtank.« Die Vorder- und Hinterpfoten Ihres Haustiers trennt der Mann danach »mit einem schweren Beilmesser ab und wirft sie zu anderen in eine Schubkarre«. Denn die Pfoten werden ja noch gebraucht: Um Tierfutter oder Leim herzustellen. Dann, nachdem er den toten Kläffer »an den Hinterbeinen (…) an zwei Haken aufgehängt« hat (um ihm später leichter das Fell abziehen zu können), wendet sich der Mann dem nächsten Passanten zu, der gerade mit seinem Hund Gassi geht, und verfährt mit dessen Hund auf dieselbe Weise.
Keine Angst: Ihr Haustier ist zuvor mittels eines (hoffentlich) korrekt angewendeten Bolzenschussgeräts betäubt worden. (»Ein zehn Zentimeter langer Stahlbolzen dringt ins Gehirn ein und zerstört mit großer Wucht die getroffenen Areale.«) Halb so schlimm also. Kein Grund, sich so aufzuregen. Stellen Sie sich doch mal vor, Ihr süßer Hundi sei bei Bewusstsein gewesen, als man ihm den Kopf abschnitt. Das wäre gewiss deutlich unschöner gewesen. Nun werden Sie natürlich von dem ganzen Geschehen nicht gerade angetan sein. Immerhin hat der Fremde soeben ohne Ihre Zustimmung Ihr Ihnen vertrautes Schoßtier abgeschlachtet, um es – ein schönes deutsches Wort – der »Tierkörperverwertungsindustrie« zuzuführen, wo von kenntnisreichem Personal gewissenhaft geprüft wird, welche Körperteile beziehungsweise Körperflüssigkeiten des Leichnams Ihres Hundes wofür genau verwendbar sind.
Halt! Stop! Bevor hier noch weitere Verwirrung entsteht: All das geschieht natürlich nicht mit Ihrem geliebten Bello und seinen Freunden, sondern nur mit Rindern und anderen sogenannten Nutztieren. Durchschnittlich werden hierzulande »jeden Tag 8189 Rinder geschlachtet«, aber keine Hunde und Katzen. Wir können also beruhigt sein.
In ihrem Essay »Die Blutfabrik«, der soeben erschienen ist, beschreibt die Hamburger Journalistin Mira Landwehr detailliert den Weg, den Schlachttiere in Europa nehmen und den Prozess der Tierkörperverwertung. Es sind nämlich nicht nur Steaks, Wurst und andere Fleischwaren, die auf diese Weise … hmm … erzeugt werden. Es fallen dabei auch zahlreiche sogenannte Nebenprodukte an, über deren Verbleib die meisten Menschen, die sich ihr Beefsteak in Klarsichtfolie abgepackt im Supermarkt kaufen, wohl lieber nichts wissen wollen.
Wie und zu welchen Zwecken werden all die Fette, Knochen, Häute, Hufe, Klauen weiterverarbeitet? Immerhin leben wir im Kapitalismus, weswegen eine Verwertung der ununterbrochen anfallenden Kadaver nicht ausbleiben kann. Daher ja auch der oben bereits genannte treffende, aber dennoch einige Fragen unbeantwortet lassende Begriff: Tierkörperverwertungsindustrie. Was passiert mit den »Augen, Nasen, Schwänzen, Hoden, Eutern und anderen (…) schwer verkäuflichen Teilen der Tiere«? Wollten wir das nicht immer schon ganz genau erfahren? Wollen wir nicht über die Details von alltäglichen Verfahrensweisen in unserer modernen Gesellschaft in Kenntnis gesetzt werden? Bei der Lektüre des informativen 34-seitigen Hefts lernt man jedenfalls etliche interessante neue Wörter, die mit einem »F« beginnen und die man bislang nicht in seinem aktiven Wortschatz hatte: »Feinbrecher«, »Fettschmelzkessel«, »Fleischbrei«.
Landwehr, die sich in der Vergangenheit auch wiederholt kritisch mit der sogenannten Tierrechtsbewegung auseinandergesetzt hat, hat ihre Rechercheergebnisse mit der gebotenen Nüchternheit aufgeschrieben, dabei aber erfreulicherweise nicht auf Anschaulichkeit verzichtet. So etwa, wenn sie es beim Hinweis auf das »Gesamtblutvolumen« der pro Jahr in Deutschland geschlachteten Tiere nicht beim Nennen einer Zahl (380 Millionen Liter) belässt, sondern die Imaginationsfähigkeit der Leser anregt: »Also knapp 7 000 Badewannen voll Blut – jeden Tag.« Was geschieht mit diesem rasch verderblichen Blut, das täglich von großen Tanklastern aus den Schlachthöfen abgeholt wird? Sie wollen’s möglicherweise nicht zu genau wissen, jedenfalls: Das aus ihm gewonnene Plasma »ist ein Protein mit Marktpotenzial für den menschlichen Verzehr«, wie beispielsweise das Unternehmen Alfa Laval AB, »ein börsennotierter Hersteller von Produkten für die Stofftrennung, Wärmeübertragung sowie Förderung von Fluiden« (Wikipedia), auf seiner Webseite stolz mitteilt.
Nebenbei lernt der Leser noch so einiges dazu: über die Geschichte der Schlachthöfe; darüber, wie viel Ressourcen verbraucht werden, um ein Kilo Rindfleisch herzustellen; über staatliche Subventionen und die Bedingungen, unter welchen im Kapitalismus sogenannte Nutztiere gezüchtet und gehalten werden (»in den beengten … Ställen sind Krankheiten … und Kannibalismus weit verbreitet«), sowie über die Lockerung von Fütterungsvorschriften (»nun darf auf den Speiseplan von Schweinen wieder zermahlenes Geflügel und umgekehrt«).
Des Weiteren erfährt man, dass der Beruf des Schlachters, für den oft schlecht bezahlte Arbeitsmigranten angeheuert werden, eine »hohe ›emotionale Neutralität‹ erfordert«, was tatsächlich niemanden überraschen sollte, und dass das Geschehen in Schlachtbetrieben, insbesondere jenes »zwischen der Betäubung des lebenden und der Zerlegung des toten Tieres«, bisher nur äußerst selten in visueller Form dokumentiert wurde (»das blutende, das sterbende Tier ist tabu«) – die tierkörperverarbeitende Industrie ist schließlich daran interessiert, dass die Leute weiter ihre Wurst kaufen und kein allzu großes Interesse daran entwickeln, wie diese genau hergestellt wird.
Die Berliner Künstlerin Jill Senft hat zu der Broschüre die passenden Illustrationen beigesteuert, die einen gelungenen Kontrast bilden zur beklagenswerten Realität des hier Berichteten: Man blickt beim Lesen auf pastellfarbene, gleichermaßen an der Pop Art wie an der Comic-Tradition geschulte Zeichnungen, in denen Gegenständliches so kunstvoll zu einfachen geometrischen Formen reduziert wurde und in die genauso viel Wille zu Abstraktion und Verfremdung eingeflossen ist, dass sämtliche gezeigten Dinge noch ohne Weiteres erkennbar sind: Fleisch- und Wurstwaren, Fabrikanlagen, Lastwagen, Laborgerätschaften, possierliche Haustiere. Man denkt beim Betrachten der Bilder sofort an das Werk des Malers und Grafikers Hans Ticha, einen der wenigen Pop-Art-Künstler der DDR. Man könnte es hier auch mit einem modernen Kinderbuch zu tun haben. Wenn man es nicht besser wüsste.
Mira Landwehr: »Die Blutfabrik. Warum Rosendünger Tierblut enthält und Zigarettenfilter auch.« Mit Zeichnungen von Jill Senft. Maro-Verlag, 36 Seiten, br., 16 €.
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