„Schon die Schwangerschaft vor vier Jahren war ein Schock. Bitte nicht jetzt, wo alles im Job auf Karrieresprung stand. Und sowieso, ob ich überhaupt je Familie wollte, das war damals noch völlig ungewiss.
Mein Frauenarzt nahm mir Blut ab. Dass das Blut am Beginn einer Schwangerschaft standardmäßig auf HIV untersucht wird, war eine beiläufige Info, eine von vielen. Aber dann, ein paar Tage später, rief mich die Praxis an. Ich solle persönlich vorbeikommen, um das Ergebnis zu besprechen.
Ich bin nicht naiv, da stimmte was nicht. Ich googelte, „HIV“. Ein paar wenige Treffer führten zu Beratungsstellen und Betroffenenorganisationen. Das meiste führte… ja, man muss es so sagen: mehr oder weniger direkt in den Tod.
Mein Frauenarzt wirkte anders als sonst, da war diese Angst in seinen Augen
Ich sah ausgemergelte Körper, sterbende Menschen. Noch immer ist HIV mit denselben Bildern assoziiert wie in den achtziger Jahren, als man von einer „Seuche“ sprach und von wilden Eskapaden, die sie verursachten.
Ich bin weder homosexuell noch habe ich jemals Drogen genommen noch irgendwelche wilden Sexphasen durchgemacht. Mein Mann und ich sind seit vielen Jahren zusammen. Davor, im Studium, hatte es einige wechselnde Partner gegeben. Alles im Rahmen, würde ich sagen.
Vieles davon ist allerdings im Detail längst vergessen. Ich versuchte Begegnungen durchzuspielen, konnte nichts finden, was mir irgendwie gefährlich vorgekommen wäre. Vermutlich reagierte ich gerade über, versuchte ich mich zu beruhigen. Doch schon bei der Begrüßung wirkte mein Frauenarzt anders als sonst. Da war diese Angst in seinen Augen. Und die erzählte etwas anderes als das, was schließlich aus seinem Mund kam. HIV sei eine behandelbare Krankheit. Man müsse daran nicht sterben. Sterben, hört man. Nur dieses eine Wort, nichts sonst.
Ich hatte meinen Mann über Jahre unwissentlich in Gefahr gebracht
Das folgende dreiviertel Jahr war die schlimmste Zeit meines Lebens. So sehr ich mich auch bemühte: Die Bilder waren kaum aus dem Kopf zu kriegen. Dazu die belastende Tatsache, dass ich meinen Mann über Jahre in Gefahr gebracht hatte. Dass Jannis sich nicht angesteckt hatte, stand zwar rasch fest… aber es hätte passieren können. Ich hatte ihn diesem Risiko ausgesetzt. Unwissentlich zwar, aber eben doch: ausgesetzt.
Und jetzt? Wie sollten wir weitermachen? Körperlich? Mental?
Jannis überlegte, es könnte ihm guttun, mit einer guten Freundin über alles zu reden. In Ordnung, meinte ich, sag es ihr. Ich selbst wiederum habe bis heute im persönlichen Umfeld niemandem von meiner Krankheit erzählt. Ich bin anders als Jannis, nicht so ein Gruppentier, mache viel mit mir selbst ab. Jannis nennt mich einen „Freigeist“.
Dass das Baby kurz nach der Schockdiagnose abgegangen ist, finde ich rückblickend wenig verwunderlich. Und auch in den Wochen danach blieb ich auf einem krassen Adrenalinplateau, der totale Ausnahmezustand. Immerhin: Die Frage des Risikos für das Ungeborene erübrigte sich. Der Schwangerschaftsabbruch, den wir in Erwägung gezogen hatten, auch.
Ich erfuhr, dass ich alt werden könne – gesund alt, wohlgemerkt
Es folgte eine Zeit, in der ich begann, mein Leben radikal neu zu ordnen. Mit Abstand erkenne ich, was mich dabei getrieben hat. Einmal die Adrenalinebene, die Todesangst, die pure Verzweiflung. Und dann, parallel dazu, von Beginn an: die Zuversicht, dass alles gut werden würde.
Mehr oder weniger direkt nach der Diagnose hatte ich mich auf Anraten meines Gynäkologen in einer Schwerpunktpraxis für Infektiologie begeben. Die Atmosphäre hier war überraschend gelöst. Weder die Mitarbeitenden noch der Arzt hatten dieses merkwürdige Flackern in den Augen, das ich am Vortag gesehen hatte. Im Gegenteil. Die Gespräche wirkten unaufgeregt, beinahe routiniert. Begriffe wie „chronische Krankheit“ fielen. Ich erfuhr, dass ich alt werden könne. Gesund alt, wohlgemerkt.
Seit Ende der neunziger Jahre gibt es Medikamente, mit denen sich das Virus gut in Schach halten lässt. Leider ist dieses Wissen aber nicht in die Bevölkerung durchgedrungen und sogar das medizinische Fachpersonal scheint teilweise ahnungslos. Bilder haben eine enorme Wucht. Mehr als alle Zahlen und Studien der Welt, die das Szenario von Seuche und Siechtum längst hätten korrigieren können.
Die erste Tablette habe ich quasi im Rausgehen aus der Apotheke geschluckt
Beunruhigend war in der Tat das Ergebnis des Nachweises der so genannten Helferzellen bei mir. Unter 200 – kurz vor einer möglichen AIDS-Erkrankung, hörte ich. Hörte das Panik-Ohr. Und auch das Mut-Ohr blieb skeptisch, als es erfuhr, dass der Wert unter Medikamenten rasch nach oben gehen sollte. „Am besten, Sie beginnen noch heute mit der Behandlung.“ Die erste Tablette habe ich quasi im Rausgehen aus der Apotheke geschluckt.
Bei der Kontrolle eine Woche später waren die Zellen dann bereits im Normbereich. „Keine Infektion mehr nachweisbar“ – im ersten Moment kann man das kaum glauben. Inzwischen ist es für mich dagegen eher komisch, bestimmte Dinge so zu betonen. Dass mein Mann und ich ungeschützten Sex haben etwa. Oder auch, dass es natürlich nichts ausmacht, wenn jemand mit meinem Blut in Kontakt kommt. Weil: Es ist ja nicht infektiös.
Alles in allem ging es mir ab der Diagnose etwa ein Dreivierteljahr lang furchtbar. Dann ging es schlagartig aufwärts. Der Grund dafür ist schnell erklärt. Nach vier Fehlversuchen habe ich ein Medikament gefunden, das ich hervorragend vertrage. Nebenwirkungen wie Knochenschmerzen, Kopfschmerzen oder Magen-Darm, womit ich vorher zu tun hatte, sind Geschichte.
Auch die Sorge, mein Körper könnte durch die jahrelang im Verborgenen schwelende Infektion dauerhaft geschädigt sein, scheint unbegründet. Erst im Rückblick ist mir aufgefallen, wie oft ich ab der Studentenzeit krank gewesen bin. Verschiedene kleinere bis mittelgroße Wehwehchen. Heute dagegen bin ich bis auf den obligatorischen Schnupfen im Winter fit.
Mit Ende 30 war die Zeit reif, sich die Familienfrage zu stellen
Es geht mir blendend – es gibt Momente, da würde ich das am liebsten in die Welt schreien. Einzig, wenn ich lange sitze, neige ich zu Verspannungen und vom Sitzen selbst kommt das nicht, ich kenne meinen Körper. Wie heißt es doch gleich? Alles, was wirkt, hat in irgendeiner Form Nebenwirkungen. In meinem konkreten Fall heißt das: Die Tabletten, die ich seit nunmehr vier Jahren nehme, sind ein Segen. Aber eben keine harmlosen Drops.
Manchmal halte ich inne, wenn ich sie schlucke – wie bei einem kleinen Ritual, das mich an vermeintlich Banales erinnert: Wir alle müssen sterben. Aber es liegt bei mir, ob ich bis dahin in Angst erstarrt oder in einem gewissen Flow zu Hause bin.
In vielen Dingen bin ich seit der Krankheit radikaler geworden. Zu meiner vegetarischen Ernährung kommt inzwischen regelmäßiges Intervallfasten dazu. Auf Alkohol verzichte ich komplett. Und wenn sich meine innere Stimme mit einem Bedürfnis meldet, dann wische ich es nicht weg, sondern nehme es ernst.
Mit Ende 30 war die Zeit reif, sich die Familienfrage zu stellen. Jannis und ich haben endlos geredet. Die Medikamente, die ich nehme, sind erst seit kurzem für Schwangere zugelassen. Es gibt noch wenige Daten. Konnte das Baby geschädigt werden? Und wenn ja, was dann? Würde ich das schaffen? Mit einer chronischen Krankheit und einem behinderten Kind?
Die Diskriminierung kann dich überall kalt erwischen
Die Frage, ob sich das Ungeborene bei mir anstecken konnte, machte uns dagegen keine Sorgen. Mit den Tabletten, die ich nehme, soll sich das Risiko im Promillebereich bewegen. Klar, passieren kann immer was. Ein Unfall, eine geplatzte Plazenta… Letztlich haben wir beschlossen, das bei allgemeinem Lebensrisiko zu verbuchen.
Es war schön, nach dem intensiven Abwäge-Prozess, gemeinsam auf „Go“ zu gehen. Und schlimm, dann dieser Frauenärztin gegenüberzusitzen, von der ich mir wünschte, sie würde mich durch die Schwangerschaft begleiten. Die Schwangerschaft, die bisher nur ein Plan war.
Die Ärztin sah erst mich und dann meinen Mann an und meinte schließlich, mit ein paar Vorsichtsmaßnahmen könne man das Ganze aus ihrer Sicht durchaus „wagen“. Jannis und ich sahen uns fragend an. „Ich meine, Sie brauchen die Verhütung ja nur während der fruchtbaren Tage wegzulassen.“ Ansonsten könnten „wir uns schützen“.
Ganz ehrlich: Schützen muss unsereins sich eher vor was anderem – vor Unwissen mit einer Tendenz zur Ignoranz beispielsweise. Die Diskriminierung kann dich überall kalt erwischen. So habe ich es mehrfach erlebt, dass medizinisches Personal bei mir „auf Abstand“ gegangen ist, sobald ich mich „geoutet“ hatte. Zuletzt in der Entbindungsklinik, beim Blutabnehmen.
Aber es gibt auch die andere Seite. Die Frauenärztin, zu der ich nach dem frustrierenden Erlebnis mit dem Safer-Sex-Tip gewechselt bin und die schließlich meinen Bauch hat wachsen sehen, war ein Glückstreffer. Nicht zuletzt dank ihr hatte ich eine rundum schöne, entspannte Schwangerschaft.
Leonie ist kerngesund zur Welt gekommen. Ein Wunder, hätte man vor einiger Zeit vielleicht gesagt. Ein Wunder wie jedes andere Neugeborene auch, sage ich, nicht mehr und nicht weniger.“
*Namen der Redaktion bekannt